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Wir bleiben mit jeder Familie in Kontakt

Seit mehr als 100 Tagen halten die massiven militärischen Angriffe auf Teile der Ukraine an. Dank der vielen Spenden, die uns nach unserem Eilaufruf Ende Februar erreichten, konnten wir allen Schulen dabei helfen, weiter Unterricht anzubieten – meist als Online-Unterricht. So auch in der Waldorfschule Stupeni in Odessa. In einem Brief berichtete uns Natalia Lukyanchenko Anfang Juni von dieser besonderen Arbeit und dem Abschluss des Schuljahres.

Die Waldorfpädagogik ist eine von vier alternativen Schulbewegungen in der Ukraine, die vom ukrainischen Ministerium für Bildung und Wissenschaft anerkannt und respektiert werden. Nicht viele Schulen verwenden den Waldorflehrplan, aber ihre Aktivitäten beeinflussen das ukrainische Bildungssystem.

Die ersten Waldorfschulen entstanden in den 1990er Jahren. Vier ukrainische Waldorfschulen (Stupeni in Odessa, die Waldorfschulen in Dnipro und Krywyj Rih und die Sophia Schule in Kiew) sind von den ukrainischen Bildungsbehörden als auch von der Welt-Waldorfbewegung voll anerkannt. Sie bieten den gesamten schulischen Bildungsgang an und ihre Schüler erzielen bei den nationalen unabhängigen Prüfungen gute Ergebnisse. Wer selbst auf einer Waldorfschule war, bringt später die eigenen Kinder wieder in die Waldorfkindergärten und -schulen. Einige kehren dorthin zurück, um selbst als Waldorfpädagoge oder Waldorfpädagogin zu arbeiten.

Eine neue Welle der Waldorfinitiativen kam 2014 auf, als die Waldorfpädagogik ihre volle Anerkennung des Ministeriums für Wissenschaft und Bildung der Ukraine erhielt. Eine neue Elterngeneration kam in die Schulen. Sie sind hochgebildet, Freidenker und manchmal sehr mutig. Sie sind geschickt in IT und Sozialwissenschaften und gut geschult in kooperativer Arbeit. Sie haben die Idee einer bewussten Elternschaft bereits verinnerlicht; sie widmen sich ihren Kindern, sind aktiv in der Kommunikation und schnell im Handeln. Zur Zeit gibt es weitere Waldorfschul- und Kindergarteninitiativen in Kiew, Dnipro, Odessa, Zaporizhzhia, Charkiw, Mykolaiv, Lutsk, Krementschuk und Horodenka.

Innerhalb der ukrainischen Waldorfbewegung haben sich bereits einige Traditionen herausgebildet. Einige davon sind mit den Schülerinnen und Schülern verbunden (Ukrainische Waldorfolympiade für Fünftklässler, Mittelalterfest der Sechstklässler, Festival der Theaterprojekte der 8. Klasse), andere vereinen die Lehrerinnen und Lehrer (Waldorflehrerseminar, das während des Schuljahres von einer Schule zur anderen reist, ukrainische Konferenzen und Kongresse).

Aber ... Der Schwarze Donnerstag, der 24. Februar 2022 ...

Alle Pläne, Gedanken und Hoffnungen wurden über den Haufen geworfen. Die ukrainischen Lehrkollegien (Lehrerinnen und Lehrer aller Waldorfschulen) hatten bereits begonnen, für die ukrainische Waldorfolympiade einen schönen Ort am Schwarzen Meer zu suchen. Das alte Schloss im Westen der Ukraine war bereit, unsere Sechstklässler für das Mittelalterfest einzuladen. Schülerinnen und Schüler probten ihre Klassenspiele, die Absolventinnen und Absolventen machten sich Gedanken über schöne Kleider für die Abschiedsfeiern. Einige Schulen investierten Geld in die Schulsanierung, andere in neue Sporthallen, Gartenprojekte, Schulhöfe.

Ja! Wir hatten ein normales Leben! Klassenfahrten, Kunstprojekte, neue Kindergartengruppen ... Wir bauten, wir planten, wir hofften ...

Weil wir die wirkliche Situation nicht ganz realisierten und den Gedanken ablehnten, dass dies auch uns und unserem Land passieren könnte, war das erste, was jeder tat, die Kinder zu packen und wegzulaufen! Wohin fliehen? Was soll man mitnehmen? Wie soll man reisen? Wen sollte man treffen? 

Einige Städte wurden gleich am ersten Tag angegriffen (Kiew, Charkiw, Saporischschja) und die Gebäude der Schulen und Kindergärten wurden zu Zufluchtsorten für die Menschen vor Ort. So helfen einige Lehrer (nicht nur Waldorflehrer), das Leben der Kinder in den Kellern der Schulen zu organisieren oder geben pädagogische Unterstützung in den Klassenzimmern, wenn die Sirenen aufhören zu heulen. Einige Lehrerinnen und Lehrer kochen in den Schulküchen für die Stadtwache oder stricken Tarnnetze für die Streitkräfte. Einige Pädagog:innen leisten freiwillige Arbeit, indem sie Medikamente, Waffen und Geld für die ukrainischen Streitkräfte sammeln. Einige unserer Lehrer sind zur Verteidigung des Landes an die Grenze gegangen.

Bisher verließen zwischen 60 und 80 Prozent der Familien der Schulen und Kindergärten ihre Wohnorte. Einige überquerten die Grenzen der Ukraine, andere gingen in den Westen der Ukraine. Unsere Schulen und Kindergärten sind jetzt über ganz Europa verstreut. Mütter mit ihren Kindern mussten ihre Ehemänner, Brüder und älteren Eltern verlassen und versuchten, ihr Leben in anderen Ländern, in fremden Sprachen, in den Häusern von Verwandten oder Waldorffreunden zu führen. Einige Familien, die nicht mit ihren Angehörigen ausreisen konnten, mieteten Wohnungen in der Westukraine und versuchten, dort ihren Lebensunterhalt zu finden.

Nachdem der erste Schock überwunden war, begannen die Lehrerinnen, den Lernprozess anzupassen. Die Hauptaufgabe besteht nun darin, den Kindern psychologische Unterstützung zu bieten. Die Kommunikation mit ihren Lehrerinnen und Mitschülern wurde zu einer „Brücke“ zu einem friedlichen Leben, zur Schulgemeinschaft, zum Heimatort und zum Mutterland. Waldorflehrerinnen und -lehrer nutzen verschiedene Online-Plattformen aktiv, um den Kindern und Jugendlichen zu helfen, im Rhythmus des Lehrplans zu bleiben. Einige Lehrer eröffnen Telegram-Kanäle und laden Schülerinnen und Schüler aus der ganzen Ukraine ein. Die Lehrkräfte mehrerer Schulen schlossen sich zusammen und erstellten einen gemeinsamen Stundenplan für die einzelnen Klassenstufen, die online unterrichtet werden. Lehrerinnen und Lehrer drehen Videos, nehmen Geschichten oder sogar den Gesang der Vögel auf und verschicken Bilder. Kindergärtnerinnen machen kleine Videos mit Frühlingsbasteleien und Fingerspielen, singen Lieder und nehmen Märchen auf.

Die Kinder kommunizieren in Chats, erzählen den Pädagoginnen und Mitschülern von ihrem Leben und teilen ihre Gedanken, Erfahrungen und Fotos mit. Die Eltern berichten, dass die Kinder manchmal darum bitten, die Aufnahmen mehrmals zu wiederholen, um die Stimme der Lehrerin zu hören, die sie lieben ...

Einige Schulen und Kindergärten in der Ukraine werden noch immer teilweise vom Staat unterstützt, andere sind auf das Geld der Eltern angewiesen. Doch viele Familien können keine, oder nur noch sehr geringe Schulbeiträge bezahlen, weil sie fliehen müssen oder ihre Arbeit verloren haben. Wir erhielten von einigen Familien Nachrichten über zerstörte Wohnungen aufgrund von Militäraktionen. Dadurch verloren einige Schulen alle finanziellen Mittel und viele Lehrer ihren Lebensunterhalt.

Kürzlich erreichte uns die Nachricht des Lehrerkollegiums der kleinen Kiewer Privatschule Borysphen (88 Schüler:innen, 38 Mitarbeitende und 120 Eltern): „Wir alle waren gezwungen, unsere Häuser zu verlassen, da die Schule und die meisten unserer Familien im nordwestlichen Teil von Kiew leben, der an der Grenze oder sogar an der Kampffront selbst liegt ... Aber die Existenz unserer Schule und der Lehrergemeinschaft ist für unsere Lehrer und Familien einer der Gründe, der uns hält und uns Kraft zum Kämpfen gibt.“

In dem Brief der Schule in Charkiw (6 Klassen, 109 Schüler, 15 Lehrer) heißt es: „Wir wissen mit Sicherheit, dass alle Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler und ihre Familien sich sehr darauf freuen, in die Ukraine zurückzukehren, in die Mauern ihrer Heimatschule, für die wir jeden Tag beten.“

Die Privatschule ASTR in Odessa (die älteste Waldorfschule in der Ukraine, mit 108 Schüler:innen, 25 Mitarbeitenden) bezweifelt, dass sie überleben wird: „Niemand kann erahnen, was als nächstes passieren wird. Aber wenn die Situation anhält und Eltern und Kinder nicht in die Schule zurückkehren, müssen wir wieder von vorne anfangen. Wir könnten unser Schulgebäude verlieren, da wir kein Geld für die Miete haben. Jetzt denken die Menschen daran, ihr Leben zu retten, und investieren nicht in das Geschäft oder die Bildung. Wir wollen die Schule, die seit mehr als 30 Jahren besteht, nicht aus Geldmangel verlieren, aber außer den Eltern haben wir niemanden, der die Schule unterstützt.“

Die Kiewer Waldorfschule Sophia (20 Klassen, 425 Schüler, 47 Lehrer) berichtet, dass „die Schülerinnen und Schüler der 11. Klasse sich in einer besonderen Situation befanden. Der Krieg machte sie sofort zu Erwachsenen, also konzentrierten sich viele von ihnen auf Freiwilligenarbeit oder die Unterstützung ihrer Familien und Freunde. Und diejenigen, die ins Ausland gingen, standen vor der Aufgabe, sich an eine neue Umgebung anzupassen. All dies erfordert viel geistige und körperliche Kraft. Gleichzeitig bereiten sie sich mit Hilfe verschiedener Lernplattformen auf die Universitäten vor. Wir haben ihnen auch Hilfe in Form von Beratungen und Unterricht zu bestimmten Themen angeboten. Aber das Wichtigste für die Kinder und Jugendlichen aller Klassen sind die menschlichen Begegnungen (wenn auch online) und die Gespräche zur gegenseitigen Unterstützung in dieser schwierigen Zeit. Sie geben uns allen die Kraft zu leben und zu arbeiten.“

Die winzige Waldorfinitiative (3 Klassen, 12 Schüler:innen, 9 Mitarbeitende) in der kleinen Stadt Horodenka im Westen der Ukraine wurde zum einzigen Ort, an dem der Schulbetrieb noch nicht aufgehört hat! Familien aus der ganzen Ukraine – vor allem aus den stark gefährdeten Gebieten im Osten – fanden dort eine Unterkunft. Diese kleine Schule nahm Flüchtlingskinder auf. Die Waldorflehrer:innen aus verschiedenen Städten begannen, den Unterricht der Klassenstufen zu organisieren, die es dort noch nicht gab. Sie gaben ihre Erfahrungen an ihre jüngeren Kolleginnen und Kollegen weiter. Sie beschlossen sogar, eine Waldorflehrerausbildung zu organisieren, zu der alle Lehrer eingeladen sind.

Die ganze Welt ist jetzt um die Ukraine herum vereint. Wir sind sehr dankbar für jede Familie, die unseren Familien Essen und Unterkunft gibt, für jede Schule, die ihre Klassen für unsere Schüler:innen öffnet, und für jeden Menschen, der den Menschen aus der Ukraine eine freundliche Hand reicht. Wir sind dankbar für die finanzielle Unterstützung für ukrainische Schulen, die ihnen das Überleben sichert.

Lehrkräfte, Eltern und Kinder sind voller Hoffnung, dass sich die Lage in der Ukraine ändern wird und wir zurückkehren können. Einige der Schulen haben bereits die Eröffnung der ersten Klassen für das nächste Schuljahr angekündigt.

Die Schulen leben und tragen die kommenden Herausforderungen unseres gemeinsamen Schicksals.

Olena Mezentseva, 15.April 2022

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