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Philippinen: November 2013

Nach "Hayan" herrscht Entsetzen, Not und Trauer

Bitoy ist zweieinhalb Jahre alt. Er sitzt weinend und an seinen Bruder Roger (neun Jahre) geklammert zwischen entwurzelten Bäumen und der stark beschädigten winzigen Holzhütte seiner Tante im Dorf Burauen auf der Insel Leyte. Nachbarn retteten die beiden zusammen mit ihren Brüdern im Alter von vier und zehn Jahren aus den reißenden Fluten, die der Taifun mit sich brachte. Ihr Vater kam bei dem Rettungsversuch der Kindern vor ihren Augen ums Leben. Auch Mutter und Schwester Princes (sechs Jahre) starben in ihrer Hütte, als diese durch den Taifun einstürzte. Seit der Katastrophe ist Bitoy nicht mehr erreichbar.  Er hat sich in seine Innenwelt eingeschlossen, leidet an Ess- und Schlafstörungen und weint fast unaufhörlich. Nur bei einem seiner Brüder findet er kurzzeitige Beruhigung. Seine Tante kann die vier Geschwister neben ihren eigenen Kindern nicht weiter ernähren und ist auch psychisch am Ende ihrer Kräfte. Die Kinder sollen zur Adoption freigegeben werden.

Verzweiflung in Tacloban

Nachdem am 08.11.2013 der verheerendste Taifun aller Zeiten mit einer unvorstellbaren Zerstörungskraft über die Philippinen hereinbrach, führte ein elfköpfiges Notfallteam der Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners e.V. vom 23.11. bis 7.12.2013 eine notfallpädagogische Krisenintervention im Katastrophengebiet durch. Unterstützung bekam das Team von dem Hilfsbündnis „Aktion Deutschland Hilft“ und der philippinischen Waldorfkindergarten und –schulbewegung. Durch die lokale Anbindung konnte auch den Kleinsten auf den Philippinen geholfen werden. Oftmals fehlen ihnen nötige Verarbeitungsmechanismen, so dass das erfahrene Unglück sehr schwer wiegt. Viele von ihnen haben überdies ihre Familien verloren. Sie laufen orientierungslos und traumatisiert durch die Straßen auf der Suche nach Essbarem und Wasser. Immer wieder sieht man Kindern mit Schildern am Straßenrand stehen, auf denen gekritzelt ist: „we need help“. In der Region Tacloban herrscht auch zwei Wochen nach der Katastrophe das blanke Entsetzen. Über 2,5 Millionen Menschen sind in der Region noch immer auf elementare Grundversorgung angewiesen. „Es ist ein sehr schmerzhafter Anblick, wenn man in einem Stadtviertel steht, dass einfach dem Erdboden gleichgemacht worden ist. (…) Das war schrecklich. Es tut einfach weh, wenn man das miterleben muß (…)“.[2]

Traumatisierungen verändern das Leben – Notfallpädagogik kann helfen

Das Notfallteam half Roger und seinen Brüdern, sich zu stabilisieren und das belastende Erlebnis zu verarbeiten und es in ihre Biografie zu integrieren.[3] [4] Vor allem halfen rhythmische Bewegungsspiele und anderen erlebnispädagogische Elemente der lähmenden Bewegungsunlust entgegenzuwirken und brachten den Kindern wieder einen Rhythmus in ihr Leben. Ebenso halfen eurythmische Übungen bei der Verarbeitung der Psychotraumata. Viele Kinder und Jugendliche, die das Notfallteam erreichte, zeigten typische traumatische Störungen auf. Sie litten an ihren schrecklichen Erinnerungen, die sie zwanghaft überfielen und immer wieder Todesängste auslösten. Sie konnten nicht vergessen. Für andere waren die Erlebnisse so unerträglich, dass sie das Geschehen ins Unterbewusstsein abdrängten und sich überhaupt nicht mehr erinnern konnten. Roger und viele andere Kinder konnten über ihre Erlebnisse nicht sprechen, so ermöglichten kreative Mittel wie Malen und Zeichnen sich zu artikulieren und ihre Erlebnisse auszudrücken. Zu den besonders traumatischen Erlebnissen gehörten Ohnmachtserfahrungen, die z. B. durch Verschüttung ausgelöst wurden. Als Erfahrung blieb zurück, das Leben nicht mehr gestalten zu können. Hinzu kommt eine Zukunftslosigkeit in Folge der Vergangenheitsfixierung durch das Trauma. Die gemeinsame Planung und Durchführung von kleineren Projekten gerade im Jugendalter konnten helfen, die Zuversicht in die eigenen Gestaltungskräfte zurück zu gewinnen und zu einer neuen Handlungskompetenz zu finden. Diese Verhalten beeinträchtigen schließlich das Alltagsleben und belasten die sozialen Beziehungen. Traumatisierungen verändern das Leben.[5]

Die Hilfe muss weitergehen

Neben der Arbeit mit den traumatisierten Kindern und Jugendlichen bot das Notfallteam Seminare für Ärzte, Psychologen, Lehrer und Erzieher in Manila, San Dionysio und Tacloban an. Ebenso konnten Beratungsseminare für Eltern im Umgang mit den traumatischen Reaktionen ihrer Kinder in beiden letzteren Städten durchgeführt werden.
Eine fortführende Arbeit in Zusammenarbeit mit anthroposophischen Ärzten, Therapeuten, Lehrern und Erziehern ist unter den aktuellen schrecklichen Bedingungen besonders wichtig. Bitoy und viele andere Kinder müssen noch weiter begleitet werden, bis sich die menschlichen Vitalkräfte stabilisieren und sie wieder eine Perspektive in dem ganzen Chaos sehen. Um dies zu gewährleisten plant das Team der Notfallpädagogik der Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners e.V. die zeitnahe Errichtung eines Kinderschutzzentrums in Tacloban und die weitere Durchführung von notfallpädagogischen Seminaren in der philippinischen  Krisenregion.[6]

Bernd Ruf

[1] Dem Kriseninterventionsteam gehörten an: Nancy Aries Baquero (Eurythmie), Anna Holz (Erlebnispädagogik), Monika Görtzel-Straube (Waldorfpädagogin), Elisabeth Mall (Assistenz), Lukas Mall (Koordinator), Reinaldo Nascimento (Erlebnispädagogik), Ulrike Preisser (Ärztin),  Sabine Romero (Waldorferzieherin), Bernd Ruf (Einsatzleitung), Warja Saake (Psychotherapie), Nina Taplick (Kunsttherapie)

[2] http://www.tagesschau.de/ausland/interview-hetkaemper100.html

[3] Harald Karutz, Frank Lasogga (2008): Kinder in Notfällen. Psychische Erste Hilfe und Nachsorge. Edewecht

[4] Jo Eckardt (2005): Kinder und Trauma ,Göttingen

[5] Clemens Hausmann (2006): Einführung in die Psychotraumatologie. Wien

[6] Spendenkonto: GLS Bank; IBAN DE47 4306 0967 0013 0420 10; BIC/SWIFT GENODEM1GLS

 

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