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Kenia: Januar 2012

Kindheit im Gepäck

Waldorfpädagogik als Notfallpädagogik im nordkenianischen Flüchtlingslager Kakuma

Waldorfpädagogik als Notfallpädagogik im nordkenianischen Flüchtlingslager Kakuma
Seit Sommer 2011 spielt sich von der Weltöffentlichkeit weitgehend unbeachtet in Ostafrika eine der größten humanitären Katastrophen der letzten Jahrzehnte ab. Viele Millionen Menschen sind nach Schätzungen der UNO vom Hungerstod bedroht. Millionen sind auf der Flucht. Erschwert wird die Hilfe für die Betroffenen durch Stammeskämpfe und militärische Konflikte. Die Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners e.V. führten vom 20.01.–04.02.2012 in Kooperation mit der Waldorfschule Nairobi, dem UNO-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR), der Lutheran World Federation (LWS) und dem Bündnis für Katastrophenhilfe „Aktion Deutschland Hilft“ eine notfallpädagogische Krisenintervention im nordkenianischen Flüchtlingslager durch, um Kindern bei der Bewältigung ihrer durch Gewalt, Vertreibung, Flucht und Hunger bedingten traumatischen Erlebnisse zu helfen. Das Projekt soll zunächst ein Jahr fortgeführt werden.

Die Hungersnot, Stammesrivalitäten und der brutale Guerillakrieg zwischen Regierungssoldaten und Rebellen treiben Millionen Menschen im blanken Kampf ums Überleben in die Flucht. Vor allem die Flüchtlinge aus Somalia und dem Süd-Sudan verschlimmern die angespannte Ernährungssituation der umliegenden Länder. In wochenlangen Fußmärschen erreichen die ausgemergelten Überlebenden die Flüchtlingslager der UNO, oft zu schwach, um die herumkrabbelnden Fliegen aus ihren tiefen Augenhöhlen zu vertreiben.

Das Flüchtlingslager Kakuma wurde bereits 1992 für etwa 30.000 bis 40.000 Kinder und Jugendliche, die aus dem Süden des Sudans geflohen waren, eingerichtet. Es liegt im Nordosten Kenias, unweit der Grenzen zum Süd-Sudan, zu Uganda und Äthiopien. Die nächste Stadt ist Lokichoggio.

Das Wort „Kakuma“ bedeutet so viel wie „Nirgendwo hin“. 100.000 Flüchtlinge aus Äthiopien, Burundi, dem Kongo, Ruanda, Unganda, Somalia und dem Süd-Sudan sind inzwischen im „Nirgendwo“ angekommen. Das Flüchtlingslager hat die Grenzen seiner Kapazität längst erreicht.

An allen Enden fehlt es im Flüchtlingslager von Kakuma an Fachkräften: es gibt eine Psychologin, drei Ärzte und etwa 55 Sozialarbeiter für 100.000 Flüchtlinge. Nach den Standards der UNHCR wären zum Betrieb des Kakuma-Camps US$ 26,6 Millionen erforderlich, tatsächlich stehen aber nur US$ 12 Millionen zur Verfügung. „Wir sind dankbar für jede Hilfe“, sagt Guy Avognon, der UNHCR-Camp-Leiter von Kakuma.

Kinder und Jugendliche, die das Unsagbare erlebt haben, benötigen zur Bewältigung ihrer traumatischen Erfahrungen zunächst einen geschützten Ort, an dem sie sich geborgen und sicher fühlen können. Das pädagogische Notfallteam der Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners e.V., unterstützt von einem achtköpfigen pädagogischen Team aus Kenia , das die Nairobi Waldorf School zusammen stellte sowie von weiteren acht Lehrern aus dem Kakuma-Flüchtlingslager, begann deshalb zunächst mit dem Aufbau eines „Child Friendly Space“ - einem geschützten Raum für die notfallpädagogische Traumaarbeit mit Kindern. Der vorgesehene Platz wurde gesäubert, Holzpfähle gesetzt und mit Seilen und Plastikplanen schattenspendende Bereiche geschaffen.

Die traumapädagogische Arbeit beginnt mit einem morgendlichen Zug des Notfallteams durch das Reception-Centre. Es wird geklatscht und gesungen. Die Kinder und Jugendlichen werden durch ein Eröffnungsritual auf den Beginn der Arbeit aufmerksam gemacht. Immer mehr schließen sich singend und klatschend dem Zug an.

Etwa 200 Kinder und Jugendliche stehen schließlich nach dem morgendlichen Umzug in einem großen Anfangskreis. Ein gemeinsames Auftaktlied erklingt, gefolgt von rhythmischen Klatsch- und Stampfübungen. Anschließend setzt sich der Kreis in Bewegung, um eine ein- und ausrollende Spirale zu vollziehen. Dann folgen eurythmische Übungen.

Danach folgen einzelne Workshops: im Formenzeichnen werden Lemniskaten geübt, im Malen aquarelliert und im freien Zeichnen Erlebnisse bildhaft ausgedrückt. Eine andere Gruppe bekommt derweil eine Geschichte erzählt, wieder andere singen oder machen Eurythmie. In der erlebnispädagogischen Gruppenarbeit wird durch unterschiedliche Übungen das Vertrauen in sich und Andere gestärkt. Die Konzentrationsfähigkeit wird beispielsweise durch das Balancieren auf einem am Boden liegenden Seil oder durch Fadenspiele geübt und auf spielerisch Art und Weise werden soziale Kompetenzen neu aufgebaut. Auch geht es um die Pflege der durch das Trauma oft schwer beeinträchtigten Basalsinne u.a. durch Übungen zur Körpergeographie, Seilspringen, Balanceübungen und Kneten.
 
Ein Abschlusskreis mit rhythmischen Übungen und einem Schlusslied beendet schließlich die Arbeit. Die Kinder werden geordnet verabschiedet und entlassen.
Jasiva ist 16 Jahre alt. Sie floh mit ihren zwei kleinen Kindern aus dem Kongo, nachdem ihre gesamte Familie von plündernden Soldaten ermordet wurde. Nach Abschluss der traumaorientierten Kriseninterventionen im Reception-Centre bot sie unter Tränen und mit schwacher Stimme dem Notfallteam ihre beiden Kinder zur Adoption an: „Damit sie eine Zukunft haben - denn hier hat keiner eine Zukunft!“.

In der Nähe des Reception-Centre im Lager Kakuma 3 befindet sich die Mt. Songot Pre-School mit 485 Kindern und zehn Lehrern in sieben Klassen.  Der Schulleiter Ali Osman stellt zwei kleine Räume seiner Schule zum Aufbau einer Kindergartengruppe zur Verfügung.

Die Kindergartengruppe orientiert ihren Tagesaufbau an Arbeitsformen des Waldorfkindergartens. Auch hier geht es zunächst um die Errichtung einer Schutzhülle, also dem Aufbau eines sicheren Ortes sowie um die Rhythmisierung und Ritualisierung des Tagesablaufes.

Nach dem morgendlichen Sammeln der Kinder wird der Kindergartentag mit einem Morgenkreis im Freien eröffnet. Es wird gesungen und jedes Kind individuell begrüßt. Es folgt eine Freispielphase im Freien und der Toilettengang. Dann geht es in die notdürftig renovierten Räume, in denen den Kindern nach dem Händewaschen in einem Sitzkreis Wasser gereicht wird. Dann wird mit Wachsmalstiften gezeichnet, um Selbstausdrucksmöglichkeiten zu schaffen, mit Bienenwachs zur Förderung der Motorik und der taktilen Sinne geknetet sowie ein Freispiel innerhalb des Raumes durchgeführt. In einem weiteren Sitzkreis wird dann ein Frühstück aus Maisbrei eingenommen, gefolgt von einer Schlaf- bzw. Ruhephase. Anschließend wird in einem Abschlusskreis noch eine Geschichte erzählt, ein Schoß-Puppenspiel gezeigt und Körperschemata-Spiele durchgeführt. Ein Freispiel im Freien und die Übergabe der Kinder an die Eltern beenden den Kindergartentag.

Auch die Lehrer im Kakuma-Camp sind überwiegend traumatisiert. Sie berichten von posttraumatischen Motivationsproblemen, anhaltender Schreckhaftigkeit, Gedächtnisstörungen, panikartigen Ängsten, Alkoholschwierigkeiten und auch von Eheproblemen.

An die Arbeit mit den Kindern schloss sich deshalb eine dreitägige Seminararbeit für etwa 30 heilpädagogische Lehrer, Sozialarbeiter und Lehrer von Pre-Schools an. Nach der Auftaktveranstaltung wurden täglich Referate zu entwicklungspädagogischen Fragestellungen im psychotraumatischen Kontext gehalten. Neben allgemeinen Fragen der Psychotraumatologie und der Notfallpädagogik ging es vor allem um die kindliche Entwicklung im ersten und zweiten Jahrsiebt und um Entwicklungsstörungen angesichts traumatischer Erlebnisse. Neben den inhaltlichen Beiträgen standen auch in der Lehrerseminararbeit künstlerische Aktivitäten, Bewegung und rhythmische Übungen im Mittelpunkt. Eine Seminareinheit widmete sich der Frage nach der Gestaltung der Schule als „sicherer Ort“.

Angesichts der gigantischen Nöte und Herausforderungen in der Krisenregion Ostafrikas und im Flüchtlingslager Kakuma kann leicht die resignative Frage aufkommen, ob Hilfe überhaupt möglich sei. Eine indische Legende wagt eine Antwort: Ein Spaziergänger beobachtet einen Mann, der von Wellen an den Strand geschwemmte Fische ins Meer zurückwirft. Mit jeder Welle werden erneut tausende Fische an den Strand gespült. Der Mann wirft jeweils in aller Seelenruhe so viele wie möglich ins Meer zurück. Als der Spaziergänger dies eine Zeit lang beobachtet hat, spricht er den Mann an und fragt ihn zweifelnd, ob es nicht völlig sinnlos sei, was er da unternehme. Der Mann nimmt einen zappelnden Fisch vom Strand und wirft ihn mit den Worten ins Wasser zurück: „Für ihn war es keineswegs sinnlos!“

Bernd  Ruf

Vollständiger Einsatzbericht (pdf).

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