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Zur Coronakrise in Brasilien

Ein Kommentar von Vanya Paskaleva, Freiwillige in Dendê da Serra

Während in Deutschland etablierte Wissenschaftler*innen den Diskurs und die Politik zur Corona-Pandemie dominieren, sodass erste Demonstranten in Deutschland schon von einer "Diktatur" sprechen, so erleben wir hier in Brasilien, wo viele Menschen die Diktatur bis 1985 erlebt haben, fast das Gegenteil: Die meisten Menschen fühlen sich von der Regierung im Stich gelassen, bis auf die Bolsonaro-Anhänger, für die alles eine "harmlose Grippe" ist. Hier finden auch viele wissenschaftliche Diskurse statt, aber natürlich haben die meisten keinen Kopf für tiefgehende wissenschaftliche Diskurse. Der Fokus der Mehrheit der Bevölkerung liegt auf dringenderen Dingen (Familie, Arbeit, Finanzen und ja Politik). Jeder Bürgermeister etabliert hier seine eigenen Maßnahmen, dagegen erscheinen die föderalen Unterschiede in Deutschland fast schon als Gleichschaltung.

Das kleine Fischerdorf Serra Grande, dessen Bewohner mittlerweile immer mehr vom Tourismus leben, liegt zwischen zwei größeren Städten:
Zum einem Ilhéus, ein Kakaozentrum im Nordosten Brasiliens, Heimatstadt des Schriftstellers Gorge Amado und zum anderen Uruçuca, eine Stadt, die geographisch eigentlich weiter weg liegt und für das Dorf weniger bedeutend zu sein scheint, aber dennoch offiziell Serra Grande mit verwaltet.
Wie stehen diese Orte in Verbindung zu einander?


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Wer bin ich?

Ich bin Vanya und seit September 2019 als Freiwillige in Brasilien in der Waldorfschule "Dende da Serra" im Bundesstaat Bahia.

Meine Sicht aus einem kleinen Ort an der Nordostküste des Landes spiegelt sicherlich nur ein Ausschnitt wieder, eine Farbe im Meinungsbild. Trotz der Ausreiseaufforderung seitens der Bundesregierung, die ab März nicht mehr die Verantwortung für die weltwärts-Freiwilligen im Ausland übernehmen wollte, bin ich dort geblieben. Meinen Freiwilligendienst musst ich dafür sogar formal beenden und bin hier nun als Privatperson und erlebe die Coronapandemie zwischen Angst und Lebensfreude in meiner Einrichtung, die ebenfalls geschlossen hat.

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Lockdown oder nicht? Jeder macht, wie es ihm passt

Am Freitag, den 05. Juni, wurden in Ilhéus alle Geschäfte wiedereröffnet, während in Uruçuca ab Juli ein Lockdown geplant ist, der auch Serra Grande betrifft. In ganz Brasilien steigen die Infizierten- und Todeszahlen immer weiter an, aber es scheint immer noch keine einheitlichen Entschlüsse zu geben. Während die einen ungeduldig ihre Märkte öffnen, schließen die anderen alles, was nicht am nötigsten gebraucht wird, um sich vor der Pandemie zu schützen. Das bedeutet auch negative Konsequenzen für die Wirtschaft, die Effektivität ist jedoch fraglich, weil viele Menschen zwischen den Städten mobil sind. Während auf der einen Seite geschlossen ist, fahren die Menschen eben zum Shoppen und Arbeiten in die Nachbarstadt. Wie auch international bereits bekannt ist, zeigt sich der Präsident nicht sehr gerührt von der fatalen Situation des Landes; von den Problemen, die von vielen auch als ein Chaos bezeichnet werden.

Was denken lokale Geschäfte?

Meine größte Befürchtung ist, dass der COVID sehr langer andauern wird und dieses Chaos nach der Quarantäne eigentlich nicht vorbei ist, sondern nur noch größer sein wird“,sagt Nedy, eine Obst- und Gemüsehändlerin aus Serra Grande. Sie erzählt von der Not in der Region:

„Ja, die Verkäufe sind stark zurückgegangen. Aber Gott sei Dank können wir die Miete zahlen und uns versorgen. Es ist alles sehr kompliziert. Dieses Virus macht allen das Leben schwer. Was mir aber noch mehr Sorgen macht sind die, die sich momentan in einer Notlage befinden.  Ich sage dir was, ich habe geweint. Ich werde emotional, aber... ich habe vor Gott gebetet, dass es schnell vorbeigeht. Denn ich weiß, dass viele Menschen hungrig sind. Viele Menschen sind obdachlos. Es gibt viele Menschen, die Panik bekommen. Es gibt viele Menschen, die depressiv werden. Schon jetzt gibt es viele Personen, die Hunger leiden oder andere Bedürfnisse nicht stillen können. Zumindest hier im Viertel versuchen die Menschen zu helfen, aber das ist sehr wenig Hilfe. Ich sprach vor kurzem mit einem Kunden darüber, dass wir vielen Menschen in der Gemeinde zu helfen versuchen – ich spreche von uns im Sinne von Verkäufern und Verkäuferinnen – wir versuchen die Bedürfnisse der Ärmsten und sogar der weniger Bedürftigen Menschen, die aber ihren Arbeitsplatz verloren haben, zu befriedigen. Wir versuchen mit der Bereitstellung von Lebensmitteln zu helfen, aber es gibt noch so viel mehr. Da gibt es zum Beispiel Miete zu zahlen und es ist die Mehrheit der Menschen, die in Mietshäusern wohnt. Aber auch Wasser- und Stromkosten. Hinzu kommen wichtige Medikamente, die manche regelmäßig nehmen müssen. Es gibt auch viele Kleinstunternehmer, die ihre Türen schließen mussten.“

Das komplette Interview mit Nedy lesen. Darin erfährst du noch mehr über die Lebensart und das Gottvertrauen vieler Brasilianer*innen.

Und was ist der Unterschied zwischen Problem und Chaos? - Für Probleme gibt es Lösungen, bei Chaos scheinen die Lösungsansätze erstickt. Aber was ist nun Realität? Die Diversität Brasiliens zeigt sich nicht nur in ihrer atemberaubenden Natur und Artenvielfalt, sondern auch in ihren unglaublichen Polaritäten zwischen Wahrheit und Lüge, Nord und Süd, Leid und Fest, bis sich mit der Zeit schließlich alles zu einem friedlichen bunten Miteinander vermischt hat. An diese Überwindung der sozialen Ungleichheit glauben zumindest die, die sich von kommerziellen Versprechen für Touristen umwerben lassen, der Realität nicht ins Gesicht blicken wollen oder einfach keinen Zugang zu einer ganzheitlichen Bildung haben. Vor der Coronakrise steckte das Land also bereits in vielen anderen Krisen, die jetzt verstärkt werden. Man verliert leicht den Überblick. Selbst das Gesundheitsministerium findet sich wohl nicht mehr zurecht, denn nun wurde die eigene Webseite lahmgelegt, die aktuelle Coronazahlen lieferte und sie täglich aktualisierte. Vielen fehlten die Worte, als sie davon erfuhren – auch mir - weswegen ich mich dazu entschloss, anstatt selbst davon zu sprechen, ein Zitat vom Nationalpräsidenten des OAB (Richterorden), Felipe Santa, zu verwenden, der noch ziemlich aufgeweckt wirkt und die Lage zu durchblicken scheint:

Das Gesundheitsministerium will nicht mehr warnen. Es handelt unklug und militarisiert, indem es seriöse Informationen über die Pandemie verschleiert oder abändert und das verschwörerische Appetit des Präsidenten befriedigt, sowie seinen persönlichen Kampf gegen die freie Presse. Eine gefährliche, ja tödliche Schande.“ (RedeBrasiliAtual)

„Das Schadensausmaß ist sehr groß und meiner Meinung nach wird es nicht nur durch das Virus an sich verursacht, sondern auch durch Politiker und die Medien, die die Informationen nicht auf eine direkte und somit effizientere Art und Weise vermitteln, sondern gar Informationsmangel aufweisen. Nehmen wir als Beispiel die Schutzmasken. Als die Maskenpflicht von der regionalen Verwaltung eingeführt wurde, war die Situation schon weit fortgeschritten. Ich glaube, dass die Ärzte sich schon längst für das Tragen von Masken ausgesprochen hatten. Um ehrlich zu sein, denke ich, dass viele verschiedene Akteure darin involviert sind, die zum Teil Geld an der ganzen Sache verdienen. Das ist keine Illusion, sondern Wirklichkeit. Während das Volk leidet, verdienen einige korrupte Politiker Geld im Namen des Gemeinwohls in diesen Pandemiezeiten. Ich bin fest der Meinung, dass dies der Fall ist. Es ist weder eine Illusion, noch eine Art politische Stimmungsmacherei meinerseits. Leider können wir nichts beweisen und selbst, wenn wir es könnten, würde es nichts bringen. Der kleine Mann wird niemals die Großen besiegen können. Nur der Größte von allen kann sie besiegen und das ist Gott. Und so werden wir weiterhin leiden und Gott darum bitten, dass sich alles bessert.“

Das Virus hat alles zum Stillstand gebracht, aber natürlich trifft es wieder einmal die Ärmsten. Wären nicht so viele Menschen aus Hilfsbereitschaft und Nächstenliebe dazu in der Lage, eigene Hilfsnetze zu bilden und Regierungsversagen zu einem kleinen Teil aus eigener Kraft zu rekompensieren, gäbe es wahrscheinlich neben den vielen Menschen, die an Lungenversagen durch das Virus sterben, auch Massengräber aufgrund von Hunger.

In Serra Grande haben sich verschiedene Initiativen herausgebildet, die vorrangig die Essensversorgung gewährleisten. Die sogenannten „cestas básicas“ beinhalten Grundnahrungsmittel, Reinigungsmaterialien und manchmal Masken von freiwilligen Näher*innen. Verschiedene Institutionen wie die Associação Pedagógica Dende da Serra, die Universität UESC in Ilhéus oder die gemeinnützige Organisation TABOA haben sich beim Spendensammeln, dem Kauf und der Verteilung von Essenspaketen gut organisiert.

 „Mein Ehemann und ich, wir sind beide sehr kommunikativ. Einige Personen haben deshalb das Bedürfnis hierherzukommen und sich uns zu öffnen. Es gibt Menschen, die kommen und sagen: ´Du, ich kann hier leider nicht mehr meine Großeinkäufe machen. Nicht weil ich nicht gerne bei euch einkaufe, aber wir haben gerade sehr wenig Geld. Jetzt bin ich vorbeigekommen, um wenigstens dieses Gewürz zu kaufen. Ich habe gar nichts mehr im Haus. Und weil mein Mann und ich gerade arbeitslos sind, haben wir jetzt eine cesta básica gespendet bekommen.  Deshalb kaufe ich heute nur das bisschen Gewürz.´ Uns tut es weh, so etwas zu hören. Nicht, weil diese Menschen kein Geld mehr in unsere Kasse bringen, sondern weil wir unsere Kunden verlieren, die hier regelmäßig ihre Einkäufe machten. Und weil sie jetzt eine cesta básica brauchen, um durchzukommen; weil ihr Chef sie nicht mehr bezahlen kann. Beide wurden gekündigt. Und ist die Familie groß und das Geld knapp, ist das Geld schnell aufgebraucht. Ich habe letztens mit meinem Mann darüber gesprochen. Wie geht es diesen Menschen jetzt wohl, nach drei Monaten Ausnahmezustand? Die Regierung gibt einem 600 reais (etwa 105€) im Monat. Das ist sehr wenig, aber es hilft wenigstens ein bisschen. Gestern kam eine Frau vorbei, der wir ein bisschen Gemüse gegeben hatten. Sie hat zwar eine „cesta básica“ bekommen, aber sie wohnt zur Miete. Sie erzählte mir: „Nedy, ich kann die Miete diesen Monat einfach nicht zahlen.“ Sie zahlt 450 reais (79€) Miete und hat zwei Kinder. Ein kleines Mädchen das drei oder vier Jahre alt ist und einen etwa 10-jährigen Jungen. Und sie ist arbeitslos. Sie hat Kindergeburtstage und andere Feste organisiert. Aber wie soll das jetzt gehen?“

Daneben existieren weitere Sammelaktionen, wie zum Beispiel die des Circo da Lua, welcher wöchentlich Obst, Spielzeug und Kleidung sammelt und an die bedürftigsten Familien verteilt. Auf dem Marktplatz befindet sich ein Sammelstand von Spenden, die bei Anfrage an Bedürftigen vergeben werden. Es gibt Essen, Kleidung, Masken und weitere Gegenstände.

 

Jenny, eine Marktstandverkäuferin, erzählt: "Hier auf dem Marktplatz gibt es einen kleinen Stand an dem Spenden gesammelt werden. Man kauft etwas ein und bringt es dann dort hin, gibt es am Stand ab. Aber die Frau die dort arbeitet hat mir erzählt, dass sehr wenig abgegeben wird. Die Personen kommen vorbei und spenden ein wenig. Aber du kannst davon auch keine ganze cesta básica machen und jemandem bringen, denn es wird immer andere geben die auch diese Hilfe brauchen. So ist das hier im Dorf. Man hilft so sehr man kann. Wenn es bei uns schon so zugeht, stell dir mal vor wie es woanders ist. Es ist wirklich nicht leicht zurzeit.

Lies dir gerne das gesamt Interview von Jenny mit Bildern durch, und erfahre, was sie mit der Kraft des Lichts und der Frauen meint.

Einkaufen auf Distanz

Eine weitere Umstellung sind die Lieferungen von Einkäufen durch die Vereinigung von verschiedenen Verkäufern. Man kann per WhatsApp eine Bestellung machen, die jeden Samstag abholbereit vor einer Metzgerei nicht weit von der Hauptstraße steht. Sie wird einem schnell und unkompliziert übergeben, sodass man unnötige Kontakte vermeidet. Viele sind bereits auf den Lieferservice umgestiegen. Allerdings deckt er nicht alle Lebensmittel ab und der Gang zum Lebensmittelgeschäft beispielsweise für Milchprodukte ist unausweichlich.

Obwohl es in Serra Grande noch keine Infizierten gibt, ist die Dorfmitte trotzdem meistens sehr menschenleer im Vergleich zum Stadtzentrum in Ilhéus, wo sich Menschen in großen Schlagen und Menschenmengen vor Banken oder Lotterien häufen. Hin und wieder trifft man auf vereinzelte Personen ohne Schutzmaske. Manche sagen, das Nichttragen von Masken liegt einer Disobedienz und allgemeinen Ignoranz zugrunde. Andere sagen, sie sei einfach viel zu unbequem. Ich persönlich glaube, dass es eine Mischung von beidem ist.

In einem normalen Monat Juni würde sich die Dorfgemeinschaft und auch die Schulgemeinschaft der Dende da Serra zu einem großen Fest namens São João treffen, um zusammen zu tanzen und lachen – den Zusammenhalt noch mehr zu stärken. In diesem Juni jedoch bleibt das hoffnungsspendende Ereignis aus. Die unmittelbare Nähe zu Städten wie Ilhéus und Itabuna, wo das Virus bereits Todesopfer gefordert hat, beunruhigt. Es gibt zwar eine Einfahrtssperre mit Fiebermessungen, Befragungen und Kontrollen, aber Verkäufer berichten dennoch davon, Kunden aus Itabuna bedient zu haben.

Die Auswirkungen dieser Krise auf das Land sind aber nicht nur gesundheitliche, sondern vor allem auch ökonomische. Niemand weiß, was die Zukunft bringen wird. Eins ist jedoch sicher:

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