Freiwilligendienste | Notfallpädagogik
+49 (0)721 20111-0
Waldorf weltweit | WOW-Day | Patenschaften
+49 (0)30 617026 30
Home: Freunde Waldorf

Gaza 2017

Warten zwischen Ruinen

Ein Bericht über Reeam Abu Jaber, unsere Projektpartnerin in Gaza

(erstmals erschienen in "Punkt & Kreis" 04/17)

Reem Abu Jaber schafft Orte für Kinder in Gaza. Das ist dort besonders wichtig, aber auch besonders schwierig. Denn seit Jahrzehnten wird der Gaza-Streifen immer wieder durch Krieg und wirtschaftliche Isolation getroffen. Warten, Geduld haben und die eigenen Träume dennoch beharrlich weiterzuverfolgen, helfen Reem Abu Jaber und ihrem Team inmitten dieser scheinbar ausweglosen Situation, Hoffnung und Zukunft für Kinder und ihre Familien zu schaffen: Mit Hilfe von Kultur, Bildung und Empowerment.

„In Gaza wartest du eigentlich dein ganzes Leben auf irgendetwas: Auf Nahrungsmittel, auf Strom, auf Genehmigungen.“ Kristina Woijtanowski, Abteilungsleiterin der Notfallpädagogik der Freunde der Erziehungskunst, einer deutschen Nicht-Regierungsorganisation, hebt etwas ratlos die Arme. Wie die Menschen vor Ort mit dieser ewigen Geduldsprobe klarkommen, ist der Notfallpädagogin manchmal ein Rätsel, obwohl sie schon mehrfach auf Einsätzen in Gaza war.

Warten als Lebensgefühl: Der Gaza-Krieg steht für eine Reihe immer wieder aufflammender Auseinandersetzungen im Gaza-Streifen. Die schlimmsten Konflikte gab es bisher 2008/09, 2012 und 2014. Jedes Mal starben Tausende. Die meisten Wohnungen sind komplett zerstört oder fast unbewohnbar, das Bild ist geprägt von Ruinen und Trümmern. Der Aufbau, der so dringend nötig wäre, ist in weiter Ferne. Alles geht nur schleppend voran. Die Hilfsorganisationen haben Schwierigkeiten, wenn sie Baumaterial oder andere Hilfsgüter einführen wollen. Komplizierte Genehmigungsverfahren erschweren den Wiederaufbau. Viele Projekte der Vereinten Nationen warten immer noch auf Genehmigung, die international zugesagten Gelder fließen nur langsam.

„Und doch gibt es Menschen wie Reem, die sich nicht unterkriegen lassen.“ Man spürt schnell, wie beeindruckt Kristina Woijtanowski von Reem ist. Sie erzählt vom Sommer 2014, als der Krieg für 51 lange Tage wütete: „Sie hat gewartet und kaum, dass der Bombenhagel aufhörte, war sie draußen. Sie hat in UNICEF-Schulen mit den Kindern aus den Flüchtlingslagern gearbeitet. Mit ihr 5-10 ihrer Leute, alle unbezahlt. Wir hatten damals jeden Tag Kontakt – eigentlich war es Wahnsinn.“  Sie macht eine Pause. „Aber doch auch so toll, was sie dort geleistet hat und immer noch leistet.“

Aktion statt Resignation: Reem Abu Jaber wurde in Deir Al-Balah mitten im Gaza-Streifen geboren. Sie lebte praktisch ihr ganzes Leben lang dort. Spezialisiert auf non-formale Bildung, Kulturmanagement für Kinder und Familien, Familienbildung und psychosoziale Betreuung traumatisierter Kinder, setzt sie sich vor allem für die Jüngsten der Gesellschaft ein. 2011 erhielt sie den nationalen Verdienstorden Frankreichs für ihr Engagement für die kulturelle und pädagogische Entwicklung von Kindern im Gaza-Streifen.
2014 gründete sie gemeinsam mit einer Gruppe von jungen, gebildeten PalästinenserInnen das Nawa for Culture and Arts Center, um „durch Kultur und Kunst ein Licht in den Seelen der Kinder zu entzünden.“ Dazu gehören der Al-Hekayat Kindergarten, Bildungs-, Kultur-, Kunst- und Freizeitaktivitäten sowie spezielle Angebote für traumatisierte Kinder, die psychosoziale Unterstützung benötigen. Die Eltern werden durch ein Programm zur Alphabetisierung und durch den Elternverein unterstützt.

Geduld als wichtige Ressource: 2016 wollte Reem zum 10-jährigen Jubiläum der Notfallpädagogik nach Deutschland reisen. Extra früh wird das Visum beantragt und alles geplant. Und lange sieht es gut aus. Reem bereitet einen Vortrag für die Tagung vor, möchte in Deutschland vor dem internationalen Fachpublikum erzählen, wie es in ihrer Heimat ist. Möchte berichten, wie schwierig es manchmal ist, dort den Waldorfimpuls zu vermitteln und vor allem, wie es ihr und ihrem Team gelingt, unter diesen schwierigen Bedingungen zu arbeiten. Sie möchte erzählen, wie man bei den Kindern kleine, aber wichtige Veränderungen sehen kann. Wie sie anfangen, ohne Aufforderung für sich und andere Sorge zu tragen. So viele Geschichten trägt sie in sich, die sie erzählen möchte. Und doch, am Ende wird die Ausreise, mal wieder, verweigert – eine Begründung gibt es nicht. Reem ist enttäuscht, aber aufgeben ist auch keine Option, sie hat noch so viele Pläne. Und so macht sie weiter. „Mein Vater sagte einmal, ich sei stur wie ein Esel. Ist das nicht wunderschön? Ich versuche die Dinge auf meine Art, mal scheitere ich, mal gelingt es mir. Aber am Ende lerne ich immer etwas.“, sagt Reem über sich.

2016 wird der Bau des Al-Hekayat Kindergartens begonnen. Doch er zieht sich hin. Immer wieder sind Planungen fertiggestellt, aber Genehmigungen werden verschleppt, die Finanzierung hinkt hinterher. Die Gespräche mit Sponsoren und das Warten auf deren Entscheidung ist immer auch eine Gratwanderung: Hakt man nach oder nervt man dann? Die Einrichtung des Kindergartens wird liebevoll geplant. Darunter sind viele Bauteile aus Holz, z.B. Türen. Wegen der Grenzblockade ist damals u.a. Holz kaum zu bekommen. Wieder heißt es: Warten. Unzählige Interventionen, Gespräche und Bauunterbrechungen. Später klappt es dann, im Februar 2017 kann der Kindergarten eröffnet werden. Mittlerweile besuchen ihn täglich ca. 90 Kinder..

Ein ganz besonderes Projekt, das Reem sehr am Herzen liegt, ist die Kinderbibliothek im ehemaligen Al Khader Kloster. Die Idee entstand bereits 2014, kurz nach der Gründung von Nawa. Das beeindruckende Gebäude beherbergte in seiner 1.700-jährigen Vergangenheit ein Kloster und eine Moschee, friedlich Seite an Seite. Über die Jahrhunderte verehrt als Ort der Spiritualität von Muslimen – ebenso wie von Christen –, verfiel es mit der Zeit immer mehr. Als Beispiel dafür, wie historische Gebäude erhalten und zum Wohle der Öffentlichkeit saniert werden können, sollte es zudem Hilfe für gefährdete Kinder durch ein nicht formales Bildungsprojekt bieten. Jahrelang kämpft das Team um Reem für das Projekt. Mit unglaublich viel eigenem Einsatz (auch finanzieller Art) und Energie schafften sie es, andere für ihre Ideen zu gewinnen, Geld von Stiftungen und Spendern zu sammeln und ihre Träume schließlich zu realisieren. Das Kloster Al Khader wurde vollständig restauriert. Im Januar 2017 eröffnete die Bibliothek endlich und wird nun jeden Tag von ungefähr 160 Kindern besucht. Die Anzahl der Kinder, die von der Bibliothek profitieren, wächst täglich. Die positiven Veränderungen im Verhalten der Kinder sind offensichtlich. Zusätzlich werden Fortschritte im Bewusstsein der Gemeinschaft und in der Bereitschaft der Eltern, sich zu engagieren, festgestellt. All die Geduld und Beharrlichkeit haben sich gelohnt. „Auch wenn die Kinderbibliothek die Erfüllung eines Traumes ist, wissen wir sehr gut, dass wir nicht alle Probleme der Kinder mit Büchern lösen können. Aber das ist unser Beitrag. Nawa ist der Name des Samens von Palmen. Und genau so sehen wir unsere Ausbildung – als Samen für eine vielversprechende Zukunft für uns alle.“

Jetzt fördern & spenden
Jetzt fördern & spenden