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Frankreich – so nah und doch so anders…

Für die Leser des Rundbriefs mag es wunderlich erscheinen, dass auf ein Land inmitten des wohlhabenden Europas geschaut wird, wo wir doch kaum Sorgen für freie Bildungseinrichtungen erwarten. Kenner der internationalen Bildungsszene wissen dagegen, wie unterschiedlich die Lebensverhältnisse und der kulturelle Kontext für z.B. die Waldorfschulen auch in Europa sind.

So sehr Frankreich für viele Menschen das Land vielfältiger Urlaubsfreuden und Kulturgenüsse ist, so sehr ist man davon überrascht, wie allgemein anerkannt der Staat nach wie vor als Hüter eines straff hierarchisch Bildungswesens fungiert. Als Alternative bestehen im öffentlichen Bewusstsein lediglich konfessionelle/katholische Schulen, die sich kaum von den staatlichen unterscheiden.

Fast unbemerkt gibt es daneben noch eine sehr kleine Zahl „freier“ Schulen, die Waldorf-Schulen und einige Montessori- oder reformpädagogische Schulen. Deren Existenz ruht freilich ganz auf dem Engagement der Eltern und Lehrkräfte, was viele dieser Schulen – auch die Waldorfschulen – in einer Art permanentem, oft sehr kreativem Pionierzustand verbleiben lässt.

Die 20 in der französischen Fédération vereinten Waldorfschulen und Kindergärten haben einen sehr unterschiedlichen Ausbaugrad, größere Schulen gibt es um Paris sowie in Colmar und Strasbourg.

Sektenvorwurf - vom Bildungsminister für nichtig erklärt

Vor dem hier skizzierten Hintergrund muss man die verheerende Wirkung sehen, die im Jahr 2000 von dem Vorwurf einer offiziellen Anti-Sekten-Kommission ausging, die Anthroposophie und damit auch die Waldorfschulen hätten einen sektenartigen Charakter. Bereits irritiert durch Gruppenselbstmorde extremer Gruppierungen reagierte die Öffentlichkeit eher gläubig als skeptisch gegenüber diesen Meldungen.

Für die französischen Freunde war sofort klar, dass die bisherige Zurückhaltung in der öffentlichen Präsentation nicht ausreichen würde, dieser Rufschädigung zu begegnen. Kompetente Menschen waren zwar zur Stelle, aber die Finanzierung ihrer Freistellung, notwendiger juristischer Beratung und Öffentlichkeitsarbeit war aus den beschränkten Mitteln der französischen Schulbewegung nicht zu leisten. In Kooperation mit dem Haager Kreis (Internationales Waldorf-Gremium) und mit finanzieller Hilfe der Software AG Stiftung wurde ein Konzept zur Unterstützung der Franzosen für drei Jahre entwickelt.

Ein wesentliches Ergebnis der intensiven Aufklärungsarbeit war die „Ehrenerklärung“ des Bildungsministers Jack Lang, mit der er alle Vorwürfe einer Sektenartigkeit der Waldorfschulen für nichtig erklärte. Auf juristisch-politischem Felde konnte erfolgreich die Seriosität der „Anti-Sekten-Kommission“ und ihres Vorsitzenden in Zweifel gezogen werden, so dass inzwischen von offizieller oder offiziöser Seite keine weiteren Schwierigkeiten zu erwarten sind. Hierzu ist den Akteuren der französischen Schulbewegung ausdrücklich zu gratulieren!

Zukunftsfragen

Neben dieser gemeinsamen und erfolgreichen Krisenbewältigung nach außen ist freilich auch deutlich geworden, welche Aufgabe nach innen anzupacken ist. Wie stark sollte oder kann sich eine Schulbewegung „formieren“, die sich gegenüber dem engen Reglement der Obrigkeit behaupten und in der Öffentlichkeit Vertrauen (wieder-) gewinnen will? Wie im folgenden Bericht dargestellt wird, sind „20 Schulen in Frankreich“ keineswegs alles ausgebaute oder im traditionellen (deutschen) Aufbau befindliche Schulen. Wie organisiert man eine solche Vereinigung unterschiedlicher Mitglieder, dass das Ziel, die größtmögliche Verwirklichung des je eigenen, waldorfpädagogischen Profils der Einzelschule, mit der Bewältigung gemeinsamer Aufgaben wie Lehrerbildung, politische Lobby-Arbeit, Qualitätsentwicklung etc. zusammenstimmt?

Nachdem die Krise gemeinsam bewältigt werden konnte, ist den Freunden nun zu wünschen, dass die gezeigte Kompetenz und Kraft auch für die weiteren Gestaltungsaufgaben zur Verfügung steht.

Walter Hiller
Geschäftsführer des Bundes der Freien Waldorfschulen, Vorstandsmitglied der „Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners“, Präsident des European Council for Steiner Waldorf Education

Die Waldorfschulbewegung in Frankreich

In Frankreich war der Film „Etre et avoir“ ein weitgehend unerwarteter Erfolg. Tausende von Menschen erfreuten sich der alten familiären Weise des Lehrers in dieser winzigen Dorfschule.

Auf der einen Seite spürt man in Frankreich diese Art Sehnsucht nach einer guten, kleinen, alten Schule. Auf der anderen Seite denkt man eigentlich nicht daran, das zentrale Schulsystem mit den von oben verordneten Lehrinhalten, die in riesigen Schulen und Gymnasien erteilt werden, in Frage zu stellen.

Die in Frankreich bald 60 Jahre bestehende Waldorfschulbewegung muss seit eh und je ihren eigenen Weg in diesen Widersprüchen finden.

Große Schulen

Die grösseren Schulen (Strassburg, Verrières, Chatou, später Colmar) sind weitgehend nach dem ursprünglichen Modell der Waldorfschulen entstanden. Diese vier Schulen haben einen Kindergarten und 12 Klassen, mit ca. 350 bis 400 Schülern. Sie werden zum grössten Teil von ihrer örtlichen Umgebung anerkannt und geschätzt, was dazu beiträgt, ihnen ein, wenn nicht leichtes, doch aber verhältnismässig „normales“ Leben zu ermöglichen.

Die zwei „Pariser“ Schulen werden zum Teil vom Staat unterstützt, was nicht unproblematisch ist (siehe Zentralismus und obligatorische Lehrinhalte), aber auf der anderen Seite die Existenz der Waldorfschulen bei Paris überhaupt möglich macht.

Zwei weitere Schulen (Lyon und Avignon) haben einen Kindergarten und 10 Klassen. Alle sechs Schulen sind gut mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar. Die geduldig gepflegten Beziehungen mit den öffentlichen Behörden lassen auf künftige Zuschüsse hoffen. Bisher liegen die aus eigener Kraft finanzierten Gehälter teilweise unter dem Mindestlohn (800 Euro!), und die Lebensverhältnisse in der Schule sind oft sehr bescheiden - was nicht zum guten Ruf dieser Schulen beiträgt.

Unter Schulen versteht man in Frankreich - ähnlich wie in England - auch die Kindergärten. Unter den 20 französischen „Schulen“ sind acht unabhängige Kindergärten. Die Kindergartenbewegung hat eindeutig bessere Perspektiven. Finanziell trägt sich eine Kindergartengruppe mit 15-20 Kindern ohne viel Schwierigkeiten. Einige haben schon Wartelisten, denn leider fehlt es an ausgebildeten Kindergärtnerinnen und an Räumlichkeiten.

Die beiden Ausbildungsstätten in Chatou und Avignon suchen gemeinsam mit der Fédération auch nach neuen Wege in der Ausbildung von Erzieherinnen für das Kleinkindalter. In den letzten Jahren ist das Bedürfnis nach Plätzen für Kindern unter drei Jahren immer stärker geworden. Auch hier muß die Waldorfpädagogik eine Antwort auf brennende soziale Fragen finden.

... und sehr kleine

Zuletzt gibt es auch sechs kleine bis winzige Schulen mit ca. 15-50 Schülern. Sie haben kombinierte Klassen mit zwei bis fünf Jahrgängen und erinnern an die Dorfschule im Film. Ihre Existenz wird immer wieder durch materielle und finanzielle Schwierigkeiten in Frage gestellt. Waldorfschule mit drei, zwei oder gar einem einzigen Lehrer ist nicht leicht zu pflegen: wie lernen die Schüler stricken, häkeln, Fremdsprachen? Wer gibt Eurythmie? Welche Geschichten sollen erzählt werden? Viele Fragen, wenig Lösungen, und doch der intensive Wunsch der Eltern, ihren Kindern so lange es geht die Waldorfschule zu ermöglichen.

Diese kleinen Schulen bräuchten dringend mehr Lehrer, um mehr Kinder aufnehmen zu können, dies ist aber aus finanziellen Gründen leider nicht möglich... Wenn das französische Schulsystem einen Sinn für Pluralismus hätte, würden auch diese kleinen Waldorfschulen in der Schullandschaft ihren Platz finden.

Die „Fédération des écoles Steiner-Waldorf en France“ versucht aus der gegebenen Vielfältigkeit heraus, ein Leitbild für bestehende und zu gründende Schulen auszuarbeiten, das in Zukunft der Waldorfbewegung einen anerkannten Platz geben könnte. Bausteine dazu sind die Öffentlichkeitsarbeit, Forschung im Rahmen der Universität, Veröffentlichung von pädagogischen Werken und natürlich die regelmässige Arbeit mit den Schulen selber.

Isabelle Ablard-Dupin

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