Trauma
Was ist ein Trauma?
Der Begriff "Trauma" kommt aus dem Griechischen und bedeutet "Wunde".
In der klinischen Psychologie bezeichnet Psychotrauma eine Verletzung der Psyche, die durch ein schwer belastendes Ereignis ausgelöst wird.
Zu den seelischen Verletzungen, die durch äußere Ereignisse auftreten, gehören: Krieg, Naturkatastrophen, Flucht, Vertreibung, Unfälle, Misshandlungen, Folter, Vernachlässigung, sexueller Missbrauch, Mobbing und das Miterleben solch katastrophaler Geschehnisse. Die Wirkung des Traumas hängt vom subjektiven Empfinden der/des Betroffenen ab und nicht von der Intensität des tatsächlich Geschehenen (Fischer/ Riedesser, 1998).
In den meisten Fällen kommt es durch das traumatische Erleben zum Gefühl der Hilflosigkeit und zur nachhaltigen Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses. Erfolgt keine zeitnahe Verarbeitung, können sich Traumata negativ auf die weitere psychische Entwicklung auswirken. Die akute Belastungsreaktion nach dem belastenden Ereignis kann dann zu einer Posttraumatischen Belastungsstörung oder zur Entwicklung von neurotischen und psycho-somatischen Erkrankungen führen (Streeck-Fischer, 2006). Weitere mögliche Spätfolgen können sich in andauernden Persönlichkeitsveränderung nach Extremstress, Borderlinestörungen und dissoziative Störungen äußern.
Durch eine frühzeitige fachkompetente notfallpädagogische Intervention nach traumatischen Erfahrungen kann der Entwicklung von möglichen Traumafolgestörungen entgegengewirkt werden.

Traumaverlauf
Der mögliche Verlauf eines Psychotraumas lässt sich in vier Phasen unterscheiden:
Akute Schockphase
Die akute Schockphase folgt dem traumatischen Geschehen. Die Reaktionen auf den Notfall können sich auf kognitiver, emotionaler, körperlicher und der Verhaltensebene abspielen und sich hier, wie auch in den folgenden Phasen des Traumaverlaufs, individuell stark unterscheiden. Zu den häufigsten Reaktionsweisen in der akuten Schockphase, die von wenigen Sekunden bis zu zwei Tagen anhalten kann, gehören im Besonderen Ängste, aber auch körperliche Symptome wie Zittern, Schwitzen oder Frieren, Fahlheit, Übelkeit mit Erbrechen, Hyperventilation, Harndrang mit Einnässen, Einkoten sowie Aktionismus oder Erstarrung. Hinzu kommen ein unrealistisches Zeiterleben, Orientierungslosigkeit, emotionale Betäubung oder Erregung mit schnell wechselnden, heftigen Gefühlsschwankungen und Gedächtnisstörungen. Des Weiteren können Enthemmungen, Aggressionsdurchbrüche oder demonstrative Ruhebekundungen bis zur völligen Apathie auftreten (Hausmann, 2006, 35; Karutz und Lagossa, 2008, 30ff). Vor allem bei älteren Kindern und Jugendlichen treten bei einem Notfall teils starke Schamgefühle auf. Von anderen angefasst, evtl. entkleidet oder von Schaulustigen in einem hilflosen Zustand beobachtet zu werden, wirkt auf sie beschämend (Karutz und Lagossa, 2008, 32). Manche Kinder haben in der Schockphase auch Dissoziationserlebnisse. Sie fühlen sich von ihrem Körper getrennt, als wären sie aus ihrem Leib herausgetreten.
Posttraumatische Belastungsreaktion
Nach dieser kurzen akuten Schockphase mit seelischer Betäubung oder chaotischem Aktionismus folgt häufig eine Wochen anhaltende Phase der Posttraumatischen Belastungsreaktion mit vielfältigen Möglichkeiten von Symptombildungen: psycho-somatische Reaktionen, wie z.B. Kopfschmerzen, Rücken- und Nackenverspannungen, Essstörungen und Verdauungsprobleme (Durchfälle/Verstopfungen); Konzentrationsschwierigkeiten und Gedächtnisprobleme, wie Amnesien oder zwanghafte Wiedererinnerungen an die Katastrophe; Bewegungsunlust oder Hyperaktivität; Rhythmusstörungen (Erinnern-Vergessen, Schlafstörungen, Ess- und Verdauungsprobleme), irrationale Schuld- und Schamgefühle; Ängste, Panikattacken, Albträume, depressive Verstimmungen, Wut und Aggression, sozialer Rückzug u.v.m. Darüber hinaus können auch weiterhin dissoziative Symptome auftreten. Aufgrund des geschwächten Immunsystems kommt es meist auch zu einer Infektanfälligkeit. Dies alles sind aber noch keine Anzeichen psychischer Erkrankung, sondern Selbstheilungsversuche des Organismus. Es sind normale Reaktionen auf unnormale Erlebnisse.
Trauma-Folgestörungen
Bei einer konstruktiven Traumaverarbeitung lassen die Symptome in der Phase der Belastungsreaktion immer mehr nach und klingen schließlich ganz aus (Erholungsphase). Bleiben die Beschwerden aber bestehen oder verstärken sie sich sogar, spricht man von einer Trauma-Folgestörung, wobei sich jedes Symptom theoretisch zu einer eigenständigen Störung entwickeln kann (z. B. Depression, Angststörung, Impulssteuerungsstörung u. v. m.). Eine der am häufigsten diagnostizierten Trauma-Folgestörungen ist die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Bei der PTBS handelt es sich um eine psychische Erkrankung, die therapeutische Interventionen erforderlich macht. Die Diagnose PTBS bedingt u.a. die Kernsymptomatik: Wiedererleben, Vermeiden und Übererregung. Zeichen der Übererregung sind Schlafstörungen, Konzentrationsprobleme, motorische Unruhezustände, emotionale Labilität, Anspannungszustände und Impulsausbrüche. Auch die Diagnose ADHS (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom mit Hyperaktivität) kann in Zusammenhang mit frühkindlicher Traumatisierung stehen. Bei den Symptomen des Wiedererlebens handelt es sich um intrusive, zwanghaft überwältigende Erinnerungen (Flashback). Sie werden durch spezifische Hinweisreize (Trigger), die Erinnerungen an das belastende Erlebnis hervorrufen, ausgelöst. Trigger können Bildsequenzen, Gerüche, Farben, Töne, Geräusche, Bewegungen, Berührungen u.v.m. sein, wobei eine konkrete, bewusste Erinnerung meist völlig fehlt. Sie lösen Alarmreaktionen aus. Beim Vermeidungsverhalten versucht der Betroffene Situationen zu vermeiden, die als Trigger für intrusive, überwältigende Erinnerungen dienen können. Auch Dissoziationen gehören zur Symptomgruppe des Vermeidens. Das Vermeidungsverhalten führt fast zwangsläufig zu sozialem Rückzug und in Folge zu sozialer Isolation. Auch Lernschwächen können auf Traumatisierungen beruhen. Die im traumatischen Schock freigesetzte und dann erstarrte Notfallenergie führt oft zu vital-emotionalen Blockaden, die wiederum Entwicklungsstörungen nach sich ziehen können. Die Seelenhaut ist durchlöchert, die Vitalkräfte durchdringen die physische Organisation nur noch unzureichend. Das Kind hat dann in seiner weiteren Entwicklung große Mühe, sein sphärenhaftes Kleinkindbewusstsein zu überwinden und zu einem freien Vorstellungsvermögen mit linearem Bewusstsein zu gelangen. Massive Lernschwächen können die Folge sein.
Andauernde Persönlichkeitstörung nach Extremstress
Chronifizierte Posttraumatische Belastungsstörungen können schließlich zu anhaltenden Persönlichkeitsveränderungen führen. Die betroffenen Menschen entwickeln dann meist erhebliche soziale Störungen mit einer massiven Gewaltbereitschaft gegen sich und andere, werden delinquent, suchtgefährdet, suizidal und geraten durch den Verlust des Arbeitsplatzes und des Freundeskreises in immer größere soziale Isolation. Die Biografie droht auseinander zu brechen. Die Opfer werden dann oft selbst zu Tätern.
Die Entwicklung von Trauma-Folgestörungen muss aber nicht immer im oben dargestellten zeitlichen Verlaufsschema geschehen. So können die Symptome der Belastungsreaktion auch nach einiger Zeit zurückgehen und scheinbar alles darauf hindeuten, dass die traumatische Erfahrung bewältigt wurde. Nach Wochen, Monaten, Jahren oder gar Jahrzehnten können aber die Symptome wieder auftreten. Im Internationalen Diagnosemanual (ICD-10), nachdem Ärzte und Therapeuten ihre Diagnosen stellen, geht man davon aus, „dass die Störung selten später als nach einer Latenz von maximal sechs Monaten auftritt. Das entspricht nicht der klinischen Wirklichkeit. Dort finden sich zum Teil jahre- und jahrzehntelange Zeiträume, in denen alles in Ordnung erschien. Und doch entwickeln manche Menschen nach Jahrzehnten eine PTBS“ (Reddemann und Dehner-Rau, 20083, 51).
Die Notfallpädagogik setzt in der Phase der „Posttraumatischen Belastungsreaktion“ ein, denn in dieser entscheidet sich, ob Betroffene in der Lage sind, die Geschehnisse aus eigenen Kräften zu verarbeiten oder nicht. Die notfallpädagogischen Kriseninterventionen helfen, die Selbstheilungsprozesse der Menschen zu aktivieren. Diese Stabilisierungsphase muss jeder Therapie vorweg gehen, wobei die eigentliche therapeutische Traumaarbeit erst in der Phase der Posttraumatischen Belastungsreaktion beginnt.
Notfallpädagogik ist keine Therapie, sondern pädagogische Erste-Hilfe für die Seele.
Trauma beeinflusst die kindliche Entwicklung
Die Waldorfpädagogik geht davon aus, dass die menschliche Entwicklung bestimmten Gesetzmäßigkeiten unterliegt. Im Kontext notfallpädagogischer Kriseninterventionen wird daher davon ausgegangen, dass die schädigenden Folgen psychotraumatischer Ereignisse in den verschiedenen Phasen der kindlichen Entwicklung unterschiedlich sind. Somit kommen je nach Entwicklungsphase auch unterschiedliche Methoden zum Einsatz.