Von Ost nach West
(aus: Waldorfpädagogik weltweit, S. 188-191, Copyright-Hinweise beachten!)
Die erste Waldorfschule der Vereinigten Staaten von Amerika war die Rudolf-Steiner-Schule in New York. Sie wurde 1928 gegründet, ihre Wurzeln reichen aber in das Jahr 1925 zurück. Damals, kurz nach dem Tod Rudolf Steiners am 20. März 1925, traf sich in New York eine Gruppe von Lehrern, Ärzten, Künstlern und Eltern, die Rudolf Steiner gekannt und bei ihm in Europa studiert hatten. Sie sprachen über die Möglichkeit, Waldorfpädagogik nach Amerika zu bringen. Schon bald wurde eine Vereinigung für Waldorfpädagogik gegründet, die eine kleine Publikation über Waldorfpädagogik mit dem Namen „The Rudolf Steiner School“ herausgab und Spenden für eine Schulgründung sammelte.
Die Schule begann in einem kleinen Sandsteingebäude. Eine der ersten fünf Lehrerinnen war Arvia McKaye (1902-1989), die Tochter des Dichters und Dramatikers Percy McKaye (1875-1956). Arvia unterrichtete viele Jahre lang an der Schule und heiratete später Karl Ege (1899-1973), der den Lehrplan für den wissenschaftlichen Unterricht an der Schule entwarf. Das Erbe der ersten Lehrergeneration ist in der Schule immer noch gegenwärtig, z. B. in einem Theaterstück von Arvia, das jedes Jahr zu Weihnachten von der 8. Klasse aufgeführt wird.
1929 zog die Schule in ein neues Gebäude in Central Park West um. Dort blieb sie 12 Jahre lang, konsolidierte sich langsam und hatte bis zu 70 Kinder. 1941 zog die Schule erneut in ein gemietetes Gebäude in der East 91st Street um, wo sie jedoch bereits nach drei Jahren wieder ausziehen musste, da das Gebäude verkauft wurde. Schüler und Lehrer standen auf der Straße, aber es hatte sich inzwischen ein fester Kern von Eltern gebildet, die sich für den Fortbestand der Schule einsetzten. William Harrer, der bereits an der Waldorfschule in Stuttgart, Deutschland, unterrichtet hatte, ist es zu verdanken, dass die Schulgemeinschaft den weitsichtigen Entschluss fasste, ihr eigenes Gebäude zu kaufen. So wurde 1944 das Stadthaus 15 East 79th Street für eine damals unerschwinglich scheinende Summe von USD 50.000,– gekauft, in dem die Schule bis zum heutigen Tag untergebracht ist.
Etwa zur selben Zeit kam ein junger Mann an die Schule, Henry Barnes (geb. 1912), der in Dornach Waldorfpädagogik studiert hatte. Henry Barnes übernahm den Vorstandsvorsitz und versammelte während seiner 30-jährigen Führungstätigkeit eine bemerkenswerte, aber sehr disparate Gruppe von Lehrern an der Schule. 1954 wurde ein zusätzliches Sandsteinhaus einen Straßenzug weiter erworben, in dem die Oberstufe unter dem Dach der Walt Whitman Schule eröffnet wurde.
Von Ost nach West
Während der 40er-Jahre waren andere Pioniere der Waldorfpädagogik an der Ostküste der Vereinigten Staaten tätig. Dr. Hermann von Baravalle (1898-1973), der ursprünglich an der Waldorfschule in Stuttgart unterrichtet hatte, kam wegen seines Judentums 1941 zur Landschule in Kimberton, Pennsylvania, und half 1942 Beulah Emmett (1890-1978), die High Mowing School in Wilton (New Hampshire), zu gründen. Von Baravalle wurde 1943 Leiter der Mathematischen Fakultät an der Adelphi Universität in Garden City (New York). Ein Treffen zwischen ihm, Alarik und Mabel Myrin (1) und dem Präsidenten des Adelphi College führte zur Gründung einer Modellschule für Waldorfpädagogik und der Errichtung eines Einführungskurses in die Methoden der Waldorfpädagogik am Adelphi College. Von Baravalle leitete den Kurs und die Schule, die heute den Namen Waldorfschule Garden City trägt, wurde bis zur zwölften Klasse ausgebaut. Von Baravalle brachte Waldorfpädagogik auch an die Westküste der Vereinigten Staaten. Er war 1955 bzw. 1959 an der Gründung der Highland Hall Waldorfschule in Los Angeles und der Sacramento Waldorfschule in Kalifornien beteiligt.
In den ersten Jahren wuchs die Waldorfbewegung in den Vereinigten Staaten nur langsam. Zwischen 1928 und 1970 entstanden ganze elf Schulen. Die folgenden Jahre weisen dagegen ein erstaunliches Wachstum auf. In den 70er-Jahren wurden 21 neue Schulen gegründet. In den 80er-Jahren entstanden 53, in den 90ern waren es ebenfalls ungefähr 50 Neugründungen. So gibt es inzwischen 127 Schulen, die im Bund der amerikanischen Waldorfschulen zusammengeschlossen sind, sowie eine Reihe weiterer Schulen im Aufbau.
Gemeinsame Aufgaben gemeinsam ergreifen
1979 wurde der „Bund der Waldorfschulen in Amerika“ (Association of Waldorf Schools of North America) gegründet, um die Zusammenarbeit zwischen den Schulen zu fördern, einzelne Schulen zu beraten und Qualitätsstandards einzuführen. AWSNA ließ 1995 „Waldorf“ als geschützten Namen in den Vereinigten Staaten eintragen. Unter den Mitgliedsschulen war bei dem wachsenden Interesse an Waldorfpädagogik der Wunsch entstanden, den Namen für diejenigen Schulen zu reservieren, die aus der Anthroposophie heraus arbeiten, sich nach dem Lehrplan der Waldorfpädagogik richten und freie nichtstaatliche Schulen sind.
Eines der größten Probleme der amerikanischen Waldorfschulen ist der Mangel an qualifizierten Lehrern, trotz der acht Lehrerbildungsinstitute in den Vereinigten Staaten. Jedes Jahr werden dringend Absolventen gesucht, um eine erste Klasse zu übernehmen oder andere Lücken zu füllen.
Ein amerikanisches Konzept der Schulfreiheit
In den Vereinigten Staaten sind Waldorfschulen staatsunabhängige Schulen. Das bedeutet, dass keine Waldorfschule durch den Staat unterstützt wird und jede Schulgemeinschaft für die Aufbringung ihrer Finanzmittel selbst zuständig ist. Auf der anderen Seite hat jede Schule die Freiheit, ihren eigenen Lehrplan zu entwickeln, ohne ihn mit dem staatlichen Lehrplan abstimmen zu müssen. Eine der großen Fragen, die die Waldorfschulen in den Vereinigten Staaten zu lösen haben, ist die Entwicklung einer langfristigen Überlebensstrategie. Natürlich gewinnt eine im Aufbau befindliche Schule mit jeder neuen Klasse auch eine solidere finanzielle Basis. Was aber als noch kaum realisierter Wunsch bleibt, ist die Idee, den Schulhaushalt aus anderen Quellen als den Schulgebühren zu sichern. Die meisten Schulen hängen für ihren laufenden Haushalt noch viel zu sehr von den Einnahmen durch Schulgebühren ab, müssten aber den Anteil ihres Schenkungsgeldes und anderer Einkünfte erhöhen, um langfristig bestehen zu können.
„Charter Schools“ – eine kontroverse Debatte
Seit 1991 gibt es in Kalifornien die Möglichkeit, öffentlich finanzierte Schulen („Charter Schools“) zu gründen, die Waldorf-Elemente integrieren. Am 3. September 1991 wurde die städtische Milwaukee Waldorfschule als erste „Charter School“ eröffnet. Dieser Versuch hat eine kontroverse Debatte ausgelöst. Kritiker der Waldorfpädagogik meinen, dass Waldorfschulen auf der Anthroposophie fußen und dass Anthroposophie eine Religion sei. Da Religion an öffentlichen Schulen nicht unterrichtet werden darf, sollten folglich auch die Waldorfschulen verboten werden. Es gibt aber auch eine ganze Reihe von Befürwortern der Waldorfpädagogik, die der Meinung sind, dass die soziale Mission der Waldorfpädagogik ein Modell für die Trennung von Staat und Kulturleben sei, und dass daher Waldorfpädagogik an einer Staatsschule keinen Platz habe.
DAVID ALSOP
Zur Heilpädagogik und Sozialtherapie
Seit 1959 gibt es in den Vereinigten Staaten heilpädagogische und sozialtherapeutische Einrichtungen auf anthroposophischer Grundlage. „Camphill Beaver Run“ in Pennsylvania war der Vorreiter für die anthroposophische Heilpädagogik in den Vereinigten Staaten. Sein Einfluss auf das allgemeine Klima heilpädagogischer Arbeit ist daher nicht hoch genug zu schätzen, obwohl es selbst unter immer schwieriger werdenden Bedingungen mit über siebzig Kindern arbeitet, die ein weites Spektrum von Behinderungen haben.
In den letzten Jahren kamen einige neue Initiativen hinzu, so eine große Camphill-Gemeinschaft in Kalifornien und vor allem eine Dachorganisation aller heilpädagogischen Einrichtungen in den Vereinigten Staaten, die auf Grundlage der Anthroposophie arbeiten möchten. Fünfzehn Einrichtungen, große Camphill-Heime wie auch kleine und familienorientierte Angebote, sind Gründungsmitglieder dieser Dachorganisation geworden.
Im allgemeinen stehen die heilpädagogischen Institute vor einigen entscheidenden Herausforderungen, wie dem wachsenden Alter von Mitarbeitern und Betreuten, dem Aus- und Fortbildungsangebot, der Sicherung langfristiger finanzieller Stabilität und Mitarbeiterbindung. Diesen Aufgaben wird eine erhöhte Aufmerksamkeit gewidmet.
Während es vergleichbare Herausforderungen und Aufgaben sicher in vielen entsprechenden Einrichtungen weltweit gibt, lebt unter Nordamerikanern eine besonders unternehmerische Haltung, eine Notwendigkeit für jede privat finanzierte Organisation, die sich auch in der Art und Weise ausdrückt, wie hier Entwicklungsaufgaben angegangen werden. Aber gerade in einem Land, in dem Unabhängigkeit und Selbstbestimmung ein wichtiges Ventil sind, ist es ein erfreulicher Schritt, dass eine neue und alle Einrichtungen umfassende Organisation begründet wurde, die eine tiefere Zusammenarbeit und Kooperation anstrebt. Hoffentlich werden dadurch gemeinsame Identität und Zielsetzung als Unterstützung für die gemeinsamen Anliegen wachsen.
CORNELIUS PIETZNER
1 Gründer der Waldorfschule in Kimberton, Pennsylvania, Alarik W. Myrin (1884-1970), ein in Schweden geborener Anthroposoph, der im Ölhandel reich geworden war, setzte sich für biologisch-dynamische Landwirtschaft und Waldorfpädagogik ein. Seine Frau Mabel Pew Myrin (1889-1972) gründete zusammen mit ihren Geschwistern den Pew Charitable Trust zu Ehren ihrer Eltern, der das öffentliche Gesundheitswesen unterstützt und der Gemeinde, in der sie lebten, zugute kommt.
David Alsop
Klassenlehrer und Geschäftsführer an der Sacramento Waldorfschule. 1988-2001 Geschäftsführender Vorstand des Bundes der amerikanischen Waldorfschulen (AWSNA).
Cornelius Pietzner
Gründer des Camphill-Heims Soltane in Pennsylvania. Präsident der nordamerikanischen Assoziation der Camphill-Heime.