"Eisbrecher" für Osteuropa
(aus: Waldorfpädagogik weltweit, S. 100-101, Copyright-Hinweise beachten!)
Die erste Waldorfschule in Ungarn wurde 1926 durch Maria von Nagy (1894-1982) gegründet, die noch mit Rudolf Steiner zusammengetroffen war. Diese kleine Schule hatte zwar nur wenige Jahre Bestand, für die Geschichte der ungarischen Schulbewegung dürfte die Tatsache ihrer kurzen Existenz aber von grundlegender Bedeutung sein. Eine Reihe von Persönlichkeiten haben von da aus den Impuls der Waldorfpädagogik weiter getragen und durch die Kriegsjahre und durch die Jahrzehnte kommunistischer Herrschaft herübergerettet. Hier ist an erster Stelle der Schriftsteller und Journalist Sándor Török (1904-1985) zu nennen. Aus dem Kreis junger Menschen, den er, ein begnadeter Berater, in den Jahren nach dem Krieg um sich versammelt hat, stammt eine Reihe der späteren Begründer der ersten Waldorfeinrichtungen nach der politischen Wende. Aber auch in anderen anthroposophischen Gruppierungen wurden die durch Rudolf Steiner angeregten pädagogischen Intentionen gepflegt und in mehr privaten Zusammenhängen gelegentlich auch für Kinder im Vorschulalter diskret praktiziert.
Politische Wende wird in der pädagogischen Landschaft gespiegelt
Die umwälzende politische Veränderung der späten 80er-Jahre wurde auch in der pädagogischen Landschaft gespiegelt. So wurde die "Sándor-Török-Stiftung für Waldorfpädagogik" ins Leben gerufen, die 1988 den ersten Waldorfkindergarten unter der Leitung von Annette Stroteich in Solymár bei Budapest einrichtete. Die Umbruch-Situation im Frühjahr und Sommer 1989 mit dem Sturz und dem Tod des Parteichefs János Kádár, der feierlichen Rehabilitation des Revolutionsführers von 1956 Imre Nagy und dem Abbau der Stacheldrahtgrenze zu Österreich, brachte eine Dynamik in die Schulgründung, die die Eröffnung der ersten Klasse am 4. September 1989 mit Anna Krigovszki als Klassenlehrerin in Solymár zur Folge hatte. Es war die erste Waldorfschule und die erste nicht-staatliche Grundschule im ehemaligen Ostblock überhaupt. Ungarn hatte sich damit historisch zum Vorreiter und "Eisbrecher" einer Entwicklung gemacht, die dann auf viele andere Länder übergreifen sollte. Damals, noch unter "real existierendem" Staatssozialismus, war weder absehbar, was sich im restlichen Ost- und Ostmitteleuropa in den nächsten Monaten und Jahren vollziehen würde, noch auch die rasante Expansion der Waldorfschulen in Ungarn selber.
Sándor-Török-Stiftung plant Ausbildung
Schon bald nach der Gründung der Schule nahm die Sándor-Török-Stiftung den Aufbau der Lehrer- und Kindergärtnerinnenausbildung in Angriff. Im Februar 1991 wurde in Zusammenarbeit mit der staatlichen "Gusztáv-Bárczy-Hochschule für Heilpädagogik" in Budapest ein berufsbegleitender, postgradueller Wochenendkurs eingerichtet. Die Leitung übernahm Zsuzsa Mesterházi, damals Vize-Rektorin, heute Rektorin dieser Hochschule. Fünf Kurse sind bereits durchgeführt worden. Im September des gleichen Jahres begann in Solymár die grundständige, vierjährige Ausbildung in Zusammenarbeit mit dem Institut für Waldorfpädagogik in Witten-Annen unter der Leitung von Tamás Vekerdy. Ab 1995 konnten, nach Erwerb eines Gebäudes und Hinzuziehung von János Darvas, der lange Erfahrung als Waldorflehrer in Frankreich, Deutschland und der Schweiz gesammelt hatte, die vierjährigen Kurse vollständig in Ungarn durchgeführt werden. Später kamen zweijährige postgraduelle Ausbildungsgänge dazu. Die Kindergärtnerinnenausbildung wurde unter der Leitung von Annette Stroteich als postgradueller Wochenendkurs für diplomierte Kindergärtnerinnen eingerichtet. Hinzu kommt eine vierjährige Eurythmieausbildung unter der Leitung von Mária Scheily und Clemens Schleuning. Ein monatlicher Wochenendkurs für Bothmergymnastik, der über drei Jahre läuft, rundet das Bild der mit Waldorfpädagogik unmittelbar verbundenen Ausbildungsinitiativen ab. Nicht zu vergessen sind einige weiterbildende Seminare für praktizierende Lehrerinnen und Lehrer.
Eltern gründen Waldorfschulen
Die Schulgründungen in den Jahren des Aufbaus trugen den Charakter selbstständiger Initiativen, die vor allem durch motivierte Eltern getragen wurden. In und um die das Land dominierende Hauptstadt, aber auch in Nord- und Ostungarn, später auch im Westen und im Süden, sind nun 17 Schulen in Betrieb. Fünf Schulen sind bereits in der Oberstufe angelangt, die erste Schule, die von Solymár nach Budapest-Pesthidegkút umziehen musste, bereitet im Schuljahr 2000/2001 in einer 13. Klasse erstmals Schülerinnen und Schüler auf die Reifeprüfung vor. Die Kindergartenbewegung zählt mehr als 40 Gruppen landesweit.
Politischer Freiraum contra zentralstaatliche Eingriffe
Die Schulen sind als freie Schulen konzipiert. Schulträger sind Stiftungen oder Vereine. Von staatlicher Seite war seit der politischen und gesellschaftlichen Wende von 1989 der Wille da, Alternativpädagogiken Raum zu geben. So ist auch eine Pro-Kopf-Bezuschussung der Schülerinnen und Schüler an Schulen mit besonderer pädagogischer Prägung durch das Unterrichtsministerium gesetzlich garantiert. Zwischen 40 und 60 Prozent der laufenden Kosten können in der Regel mit dieser Förderung bestritten werden, der Rest wird durch Elternbeiträge – nicht ohne Schwierigkeiten bei der bescheidenen Einkommenslage eines großen Teils des Mittelstands – ergänzt. In einzelnen Fällen ist es Schulen gelungen, zusätzliche Mittel von den Kommunen zur Verfügung gestellt zu bekommen. Auch durch Stiftungen im In- und Ausland können gelegentlich begrenzte Einzelprojekte finanziert werden. Nur einige wenige Schulen haben von den Gemeinden Schulgebäude unter günstigen Bedingungen erhalten. Für viele Initiativen bilden überhöhte Miet- und Pachtverträge ein finanzielles Handicap, das Elternbeiträge wie Lehrergehälter stark belastet.
Eine dauernde Herausforderung bilden die staatlichen Rahmenrichtlinien für die Lehrpläne, die Benotung und die Anerkennung von Lehrerdiplomen. Die Schulbewegung, die sich inzwischen in der Form einer gemeinnützigen "Vereinigung für Waldorfpädagogik in Ungarn" als Rechtsperson zusammengeschlossen hat, bearbeitet solche Fragen in Kommissionen, an denen Lehrerinnen und Lehrer, Eltern und kompetente Freunde teilnehmen. Der relative Freiraum, der in den Jahren nach der Wende bis etwa 1998 vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten zuließ, wird in den letzten Jahren deutlich durch zentral-staatliche Eingriffe eingeengt. Neue bildungspolitische Strategien für das freie Schulwesen stehen an. Dazu müssen Bewusstsein und Strukturen für die Möglichkeiten und Notwendigkeiten zivilgesellschaftlicher Bürgeraktivitäten geschaffen werden.
Waldorfpädagogik knüpft an ungarische Traditionen an
Seit dem Gründungsgeschehen von 1989 ist mehr als ein Jahrzehnt vergangen. Damals stand den Beteiligten deutlich und prägnant vor Augen, dass Waldorfpädagogik an Impulse anknüpft, die auch in der nationalen Tradition ihre Vorläufer hat: in den Impulsen des Grafen Stefan Széchenyi (1792-1860), in den Schulreformen eines Eötvös (1813-1871), in der pädagogischen Anthropologie eines Sándor Karácsony (1891-1952). Aus der Bildungslandschaft Ungarns ist Waldorfpädagogik im Augenblick nicht wegzudenken. Es gibt kaum einen Ungarn, der nicht schon von ihr gehört hätte. Wie die Probleme der Qualitätsentwicklung – zu der die brennende Frage adäquater Formen und Prozesse der Lehrerbildung gehört – in der nächsten Zukunft angegangen werden, ist von ausschlaggebender Bedeutung. In Ungarn, wie auch anderswo in der Welt, wird Waldorfpädagogik an ihrer Fruchtbarkeit gemessen. In der gesellschaftlichen Wirklichkeit wird sie sich auf Dauer nicht durch theoretische Prinzipien, mögen sie noch so überzeugend sein, noch durch Mode oder Marketing durchsetzen können, sondern durch die Persönlichkeiten der Lehrerinnen und Lehrer und ihre erziehungskünstlerischen Fähigkeiten, Kinder und Jugendliche ganzheitlich – Leib, Seele und Geist – als Individualitäten wahrzunehmen, anzusprechen und zu fördern.
JANOS DARVAS
Janos Darvas
Waldorflehrer in Deutschland und in der Schweiz. Seit 1995 Leiter des Waldorflehrerseminars in Solymar, Ungarn.