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Leiden im Wechsel der politischen Ideologien

(aus: Waldorfpädagogik weltweit, S. 98-99, Copyright-Hinweise beachten!)

Blickt man auf das tschechische Schulwesen des 20. Jahrhunderts zurück, sieht man, wie sehr es unter dem Joch der wechselnden staatlichen Ideologien gelitten hat. Die Lehrer und Schulen haben im Laufe von wenigen Jahrzehnten mindestens vier einschneidende Umbrüche miterleben müssen. Im Jahre 1918 kam nach dem Zerfall des habsburgischen Österreichs eine kurze Zeit des Aufbaus eines tschechoslowakischen staatlichen Schulwesens. 1939 begann dann eine auch für die Entwicklung des Schulwesens tragische Epoche einer zuerst nationalsozialistischen und ab 1948 kommunistischen ideologischen Herrschaft. Mit den wechselnden staatlichen Ideologien änderten sich auch die Unterrichtsziele und Unterrichtsinhalte radikal. In solchen bildungspolitischen Verhältnissen haben die Freien Waldorfschulen, trotz mehrerer pädagogischer Vorträge Rudolf Steiners in Prag und auch eines Gründungsversuchs in den 20er-Jahren, keinen wirklichen Entfaltungsraum finden können. Erst nach der Wende im Jahre 1989 wurde es möglich, an die Verwirklichung der Waldorfpädagogik und an die Gründung von Waldorf-Pädagogischen Einrichtungen zu denken.

Den Gründungen von Waldorfschulen und Waldorfkindergärten ist an mehreren Orten noch zu kommunistischen Zeiten vorbereitende Untergrundarbeit vorangegangen. So gab es z. B. in Prag, Semily, Príbram und Písek bereits in den 80er-Jahren anthroposophische Studiengruppen, die sich mit den Inhalten der Anthroposophie beschäftigt haben. Aus diesen Kreisen sind dann die ersten Gründungsimpulse entstanden. Durch öffentliche Vorträge von tschechischen Anthroposophen und durch Seminare von ausländischen Waldorfpädagogen ist es in einigen Städten wie Písek, Ostrava, Príbram, Praha, Semily, Pardubice und Karlovy Vary gelungen, nicht nur Lehrerinnen und Lehrer oder Kindergärtnerinnen für die Waldorfpädagogik zu begeistern, sondern ebenso die Elternschaft zu gewinnen und nicht zuletzt auch die entsprechenden Vertreter der Schulverwaltung davon zu überzeugen, dass es an der Zeit ist, Waldorfkindergärten und Waldorfschulen zu gründen.

Die Waldorfpädagogik hat in den ersten Jahren nach dem Umbruch allmählich und unsicher in einzelnen, so genannten "alternativen" Klassen oder Kindergartengruppen Fuß gefasst. Es war noch nicht sofort deutlich abzusehen, ob aus den bescheidenen Anfängen eine wirkliche Waldorfschule werden wird. Für die erste Zeit ergaben sich zwei wichtige Aufgaben. Die erste Aufgabe bestand in der Etablierung einer gründlichen Ausbildung der künftigen tschechischen Waldorfpädagogen. Die zweite in der Sicherung einer rechtlich klaren und wirtschaftlich gesicherten Form von Waldorfkindergärten und Waldorfschulen. In diesem Zusammenhang sind die Verdienste von einigen Persönlichkeiten aus der anthroposophischen Bewegung hervorzuheben, insbesondere von Dr. Josef Bartos, Jana Mildeová und Vladimír Nejedlo, die sich dieser Aufgaben opferbereit angenommen haben. Im Rahmen der Tschechischen Vereinigung für Waldorfpädagogik haben sie Kontakt zu den Vertretern des Bundes der Freien Waldorfschulen in Deutschland, des Stuttgarter Lehrerseminars und auch zur Internationalen Vereinigung der Waldorfkindergärten aufgenommen und schon 1992 ist in Semily mit Hilfe dieser Institutionen die erste berufsbegleitende Waldorflehrerausbildung und dann 1993 auch das Waldorfkindergartenseminar entstanden. Beide Seminare arbeiten seitdem mit der Anerkennung des Schulministeriums ohne Unterbrechung.

Experimentalstatus für Waldorfschulen

Wegen der rechtlichen Position von Waldorfschulen war es ebenso notwendig, Gespräche mit den Beamten des Schulministeriums zu führen. In den Verhandlungen ist es gelungen, dass den Waldorfschulen von Seiten des Ministeriums gleiche rechtliche und wirtschaftliche Bedingungen gewährt wurden wie allen anderen Regelschulen. Die Waldorfschulen sind mit einem sog. "Experimentalstatus" entstanden, was ihnen einen gewissen rechtlichen Schutzraum ermöglichte, z. B. gegenüber den veralteten Kontrollmethoden der Schulinspektion. In der pädagogischen Arbeit und mit Einschränkungen auch in der internen Verwaltung wurde den Waldorfschulen große Autonomie gewährt. So durften sich die 1990 bis 1992 gegründeten Waldorfschulen in Ostrava, Pardubice, Písek, Prag, Príbram und Semily relativ ungestört entwickeln. Erst 1999 wurde die jüngste tschechische Waldorfschule in Brno gegründet und im Zusammenhang damit ein neues eigenständiges Waldorf-Pädagogisches Seminar.

In den ersten Jahren nach dem Umbruch waren die Waldorfschulen mit dem unmittelbaren Unterricht und mit den elementaren Existenzbedingungen einer Schule beschäftigt. Gesprächspartner für das Schulministerium waren daher hauptsächlich die oben genannten außerhalb der Schulen stehenden Persönlichkeiten, die im Rahmen der Tschechischen Vereinigung für Waldorfpädagogik gearbeitet haben. Seit Mitte der 90er-Jahre wurden immer mehr Aufgaben von den Waldorflehrern selbst übernommen. So z. B. haben die Lehrer im Jahre 1995 für das Ministerium ein waldorfpädagogisches Bildungsprogramm geschrieben, das den Lehrplan und die pädagogischen und organisatorischen Rahmenbedingungen von Waldorfschulen beinhaltet. 1997 kam in Semily ein neues Fortbildungsseminar für tätige Waldorflehrer zustande und im gleichen Jahr wurde diese breite Zusammenarbeit von Waldorfschulen auch institutionell durch eine neu gegründete Assoziation der Waldorfschulen in Tschechien zum Ausdruck gebracht. In den Jahren 1997 bis 1999 hat diese Assoziation die Tschechische Vereinigung für Waldorfpädagogik in allen wichtigen Aufgaben abgelöst, so bei der Organisation von Ausbildungsseminaren, bei der Beratung von neuen Waldorfschulinitiativen und anderem mehr. Inzwischen haben die meisten tschechischen Waldorfschulen die Größe von Grundschulen mit neun Klassen erreicht und stehen nun vor der Aufgabe, Oberstufen (Klasse zehn bis dreizehn) aufzubauen. Für die Oberstufen musste ein neuer Lehrplan erarbeitet und ein neues Oberstufenlehrerseminar gegründet werden. Die Waldorfschule Prag "Jinonice" hat die Koordination der zur Oberstufengründung hinführenden Vorbereitungsarbeiten und die Organisation des Oberstufenlehrerseminars übernommen.

Viele Kindergärten

Die Waldorfkindergärten gingen einen ähnlichen Weg wie die Schulen. Es gibt inzwischen in Tschechien fünf Waldorfkindergärten. An die hundert Kindergärtnerinnen haben bisher die Waldorfkindergartenausbildung absolviert und nehmen regelmäßig an einer Fortbildung teil. Dadurch wird etwa an vierzehn weiteren Kindergärten oder Kindergartengruppen in ganz Tschechien im Sinne der Waldorfpädagogik gearbeitet. Auch für die Waldorfkindergärten wurde eine eigene Assoziation gegründet.

Heilpädagogik

Das Gebiet der anthroposophischen Heilpädagogik wurde vom Anfang an vor allem durch zwei Persönlichkeiten repräsentiert: Dr. Jana Vásová und Dr. Anezka Krcková. Bereits 1990 ist die erste Klasse einer wachsenden sonderpädagogischen Waldorfschule entstanden, die insbesondere dank der kräftigen und engagierten Leitung der Gründerin Dr. Jana Vásová und der starken Unterstützung des holländischen Ausbildungszentrums Helicon in Zeist heute bereits eine vollständige zwölfklassige Schule ist. Seit einigen Jahren arbeitet auch ein heilpädagogisches Ausbildungszentrum, die "Akademie der sozialkünstlerischen Therapie Tábor" unter der pädagogischen Leitung von Dr. Anezka Krcková, an das ein entstehendes heilpädagogisches Heim in Nová Ves u Lomnice nad Popelkou in Ostböhmen angeschlossen ist.

In den ersten Jahren nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes war in der Öffentlichkeit eine große Offenheit der Waldorfpädagogik gegenüber zu spüren, sie hat auch die erste Gründungswelle am Anfang der 90er-Jahre getragen. Diese Offenheit und Begeisterung ist mit den Jahren verschwunden. Man merkt eine gewisse Gleichgültigkeit oder sogar Skepsis allen Neuerungen gegenüber, die der Umbruch mit sich gebracht hat. In der Presse werden die Waldorfschulen insgesamt positiv geschildert, die Waldorfpädagogik hat auch an den pädagogischen Fakultäten meistens eine anerkannte Stellung. In den kommenden Jahren steht den Waldorfschulen hauptsächlich die Aufgabe bevor stabile Oberstufen aufzubauen und dafür werden vor allen Dingen engagierte Lehrerpersönlichkeiten benötigt. Auch die Formen der Begleitung und Beratung von neuen Schulinitiativen in der Assoziation von Waldorfschulen müssen neu erarbeitet werden. Neben der 1999 entstandenen Schule in Brno wird in den folgenden Jahren eine neue Schulgründung in Prag erwartet, so auch in Olomouc, Liberec und Zdár nad Sázavou, wo schon Elternvereine gegründet wurden und Öffentlichkeitsarbeit betrieben wird. Ein Zeichen dafür, dass das Interesse an der Waldorfpädagogik in Tschechien wächst.

TOMÁS ZDRAZIL

Tomás Zdrazil
Seit 1998 Klassenlehrer an der Waldorfschule Semily, Tschechien. Promotion an der Universität Bielefeld.

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