Beständigkeit und Kontinuität seit Anbeginn
(aus: Waldorfpädagogik weltweit, S. 50-53, Copyright-Hinweise beachten!)
Mit der Eröffnung der Basler Rudolf Steiner Schule im April 1926 mit 30 Schülerinnen und Schülern in drei Klassen begann die Entwicklung der Schweizerischen Schulbewegung sechseinhalb Jahre nach der Gründung der Waldorfschule in Stuttgart. Ein Jahr später begann die Zürcher Schule ihre Tätigkeit, und 1945 schloss sich die Berner Schule an. Die Eigenart der Gründungsinitiativen und die örtlichen Gegebenheiten führten dazu, dass drei sehr verschieden geprägte Schulstrukturen entstanden, die bis in die 60er-Jahre kaum miteinander in Kontakt traten. Die Spaltung der "Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft" in den 30er-Jahren hatte starke Auswirkungen auf die Schulbewegung, sodass es zu einer Polarisierung der Waldorfschulen in Basel und Zürich kam. Im Gegensatz zu Waldorfschulen in Deutschland, Österreich und Holland konnte der Schulbetrieb auch während des Zweiten Weltkriegs aufrecht erhalten werden.
Schulgründung in Basel …
Im November 1919 hielt Rudolf Steiner in Basel auf Einladung des damaligen Vorstehers des Erziehungsdepartements einen Vortrag über Geisteswissenschaft und Pädagogik, der auf großes Interesse stieß. Aus Lehrerkreisen wurde der Wunsch nach einem einführenden Kurs geäußert, der dann 1920 stattfand. Dieser so genannte "Baseler Lehrerkurs" (GA 301) war übrigens der erste, in dem Rudolf Steiner in 14 Vorträgen eine Darstellung seiner Pädagogik vor einer öffentlichen Zuhörerschaft gab. Im gleichen Jahr wurde die Friedwart Schule in Dornach für Jugendliche ab 14 Jahren gegründet. 1922 kam es zu ersten Beratungen einer Gruppe von Lehrerinnen, Lehrern und Eltern über eine Schulgründung in Basel. Ostern 1923 entstand der "Schulverein für Erziehungs- und Unterrichtswesen aufgrund echter Menschenerkenntnis", in dessen Auftrag Rudolf Steiner (1861- 1925), Albert Steffen (1884- 1963) und Friedrich Widmer (1889-1966), einer der Grün dungslehrer, das Erziehungsdepartement in Basel aufsuchten, um sich persönlich nach den Möglichkeiten einer neuartigen Schule zu erkundigen. Das Anliegen wurde vom damaligen Vorsteher des Departements, Dr. Fritz Hauser, wohlwollend aufgenommen, und der Erziehungsrat bewilligte das Gesuch. Durch den Tod Rudolf Steiners 1925 verzögerte sich die Eröffnung der Schule bis 1926. Viele Jahre später, nämlich 1967, beschrieb Regierungsrat Arnold Schneider, der damalige Vorsteher des Erziehungsdepartements, anlässlich eines Festakts zur Einweihung des neuen Schulhauses den Gründungsakt der Waldorfschule Basel folgendermaßen:
"Aus unseren Akten ist ersichtlich, dass sich die Behörde mit dem Gesuch recht gründlich beschäftigte. Es wurde, ich zitiere – ein Bedenken dahin geäußert, es könne aus dem eingereichten Aktenmaterial nicht mit aller Deutlichkeit der Schluss gezogen werden, dass aufgrund des in Aussicht genommenen Lehrplans das gleiche Lehrziel wie an öffentlichen Schulen erreicht werden könne. Darum wurde der Wunsch ausgesprochen, man möchte doch durch einen Fachmann diesen Punkt aufklären lassen. – Das Gesuch samt den Begleitakten wurde Herrn Prof. Paul Häberlin übergeben, damaliger Ordinarius für Psychologie, Philosophie und Pädagogik. Der Gelehrte studierte das Material eingehend, erklärte jedoch, dass er das gewünschte Gutachten nicht erstellen könne. Ein Urteil über die Erreichung der Lehrziele sei erst dann möglich, wenn die Schule existiere und in Betrieb sei. Der Erziehungsrat schloss sich dieser Auffassung an und bewilligte das Gesuch. Eine Untersuchung darüber, ob die staatlichen Lehrziele in der Rudolf-Steiner- Schule erreicht wurden, ist in der Folge nie durchgeführt worden. Dies zeigt, dass der Vertrauensvorschuss der Behörden von einem echten Vertrauensverhältnis abgelöst worden ist. Ein Konzept des Ansprechens und Entwickelns junger Menschen kann sich wohl nur dann über ein halbes Jahrhundert als tragfähig erweisen, wenn ihm ein gutes Stück innere Wahrheit eigen ist."
In dem erwähnten freilassenden Vertrauensverhältnis zwischen staatlichen Behörden und Waldorfschule, das sich bis heute erhalten hat, wird der aus humanistischer Tradition geprägte Basler Geist spürbar, unter dem sich die Schule ungestört entwickeln konnte. Die staatliche Anerkennung der Waldorfschule schloss allerdings keinen Anspruch auf finanzielle Förderung ein. Bis heute werden nur sehr wenige Waldorfschulen in der Schweiz staatlich bezuschusst. Daher setzte sich die Basler Waldorfschule zu ihrem 75. Jubiläum 2001 in einem Manifest für die staatliche Finanzierung aller nicht-staatlichen öffentlichen Grundschulen ein.
… in Zürich
Auf wesentliche Motive bei der Gründung der Waldorfschule Zürich hat Conrad Englert Faye in einer Ansprache 1936 hingewiesen: "Eine Schulgründung darf nicht im Privaten stecken bleiben und muss sich von persönlichen Bedingungen unabhängig machen." Die Zürcher Waldorfschule solle nicht doktrinär kopieren, was die Waldorfschule in Stuttgart vorgebe. Die Schule solle durch die beteiligten Menschen gestaltet werden; eine Art "Los von Rom"-Statuierung. Eine Waldorfschule solle sich in die geistige Kontinuität des betreffenden Landes oder Ortes stel len. (Vgl.: Zur Menschenbildung. Aus der Arbeit der Rudolf-Steiner-Schule Zürich 1927-1977, Zbinden, Basel 1977.) Hier klingt etwas vom Geist der kraftvollen Eigenprägung der Zürcher Schule an, die sich in ihrer Geschichte in ganz anderer Art mit den staatlichen Behörden auseinander zu setzen hatte als die Basler Waldorfschule.
… und in Bern
Im Kanton Bern kam es zur Implementierung der Waldorfpädagogik als Methode in den Staatsschulen durch den Impuls von Friedrich Eymann (1887-1954). Durch seine Tätigkeit am staatlichen Berner Lehrerseminar hatte er einen Kreis junger Lehrerinnen und Lehrer versammelt, die in vielen Dorfschulen mit den Methoden der Waldorfpädagogik arbeiteten. Aufgrund dieser Initiative wurde Eymann von seinem Lehramt suspendiert. 1942 kam es zur Gründung der Freien Pädagogischen Vereinigung (FPV), die noch heute besteht. Die Arbeit dieser Vereinigung führte 1945 zur Eröffnung der Berner Waldorfschule.
FELIX SCHAUB
Zusammenarbeit entsteht
Mit der Eröffnung der Bieler Schule 1970 begann in der ganzen Schweiz eine Zeit der Neugründung von Waldorfschulen und Waldorfkindergärten. Damit wurde es für die einzelne Schule immer wichtiger, das Bewusstsein über den eigenen Umkreis hinaus zu erweitern, die anderen wahrzunehmen, sich gegenseitig kennen zu lernen. Inzwischen gibt es in allen vier Sprachregionen (französisch, italienisch, rätoromanisch und deutsch) des kleinen Landes Rudolf-Steiner-Schulen. Drei Schulen arbeiten in der französischen, zwei in der italienischen, eine ganz kleine Schule arbeitet in der rätoromanischen und die große Mehrzahl in der deutschen Schweiz. Allein schon durch die Sprachenvielfalt entstehen eine spezielle Farbigkeit und Differenziertheit in der Schullandschaft. Viermal jährlich treffen sich Vertreterinnen und Vertreter aus allen Schulen in der Arbeitsgemeinschaft der Rudolf-Steiner-Schulen in der Schweiz, um an Fragen, welche die Schulbewegung als Ganzes betreffen, zu arbeiten. Die Zusammenarbeit ist geprägt durch die Geste von der autonomen einzelnen Schule hin zur Gemeinsamkeit aus freiem Entschluss und Verantwortung für die anthroposophische Schulbewegung in der Schweiz. Daraus ergibt sich auch, dass die Schweiz bis heute über keinen Dachverband oder Bund der Rudolf-Steiner- Schulen verfügt. Durch diesen freien Zusammenschluss konnten in den letzten Jahren diverse Projekte verwirklicht werden. Es wurden zum Beispiel die Koordinationsstelle aufgebaut, ein Solidaritätsfonds für alte oder aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr tätige Lehrkräfte gegründet oder jüngst ein Netzwerk der Oberstufen erarbeitet, das den Oberstufenschülern die freie Wahl unter verschieden ausgerichteten Oberstufen innerhalb der Netzwerkschulen ermöglichen soll. Für verschiedenste Bereiche wurden Mandats- und Arbeitsgruppen gebildet, die Aufgaben der Gesamtschulbewegung wahrnehmen. Durch die vor einigen Jahren gegründete Stiftung zur Förderung der Rudolf-Steiner-Pädagogik in der Schweiz konnten wertvolle Impulse und manche finanzielle Hilfe in die Schulbewegung hinein getragen werden. So wurde es zum Beispiel möglich eine Koordinationsstelle für die Kleinkind- und Vorschulerziehung zu schaffen; oder auch das Qualitätssicherungsverfahren von "Wege zur Qualität" konnte durch die Unterstützung der genannten Stiftung erarbeitet werden, die jetzt in den einzelnen Schulen Schritt für Schritt umgesetzt wird.
Schwierigkeiten gemeinsam tragen
Nach den Jahren unablässigen Wachstums zwischen 1970 und 1985 ist seit 1996 eine deutliche Wende eingetreten. Nicht wenige der zurzeit 39 Schulen sehen sich mit existenziellen Fragen konfrontiert. Gesamtschweizerisch sind die Schülerzahlen um über 400 Kinder zurückgegangen, was sich natürlich auch finanziell niederschlägt. Zwei Schulen werden im Sommer 2001 ihre Tore schließen müssen. Für die Schulbewegung erwachsen aus dieser Wende neue Fragen der Zusammenarbeit: Dass in der bekanntlich sehr wohlhabenden Schweiz die Rudolf-Steiner- Schulen in zunehmendem Maße um ihr finanzielles Überleben kämpfen müssen, hängt auch mit der Tatsache zusammen, dass bis heute nur in einzelnen Kantonen nichtstaatliche Schulen Beiträge durch die öffentliche Hand erhalten und die Finanzierung des Schulbetriebs hauptsächlich durch die Elternschaft erbracht werden muss. Neben den finanzpolitischen Fragen fordern auch die bildungspolitischen Veränderungen ein neues, gemeinsames Auftreten der Rudolf-Steiner-Schulen in der Öffentlichkeit. Weitere gemeinsam zu bearbeitende Aufgaben liegen im Bereich der pädagogischen Forschung wie auch in der Lehreraus– und Weiterbildung. Am letzteren wird vor allem in den vier Seminaren in Dornach, Lausanne, Bern und Zürich gearbeitet. Wo sind die Lehrkräfte für die kommenden Schülergenerationen, wie werden sie gefunden und vor allem auch, wie werden sie für ihre Aufgaben im pädagogischen Wirken, in der Arbeit mit den Eltern und im Zusammenwirken in den Lehrerkollegien vorbereitet, damit ihnen die drei Fackeln des Lehrerberufes, Fantasiefähigkeit, Mut zur Wahrheit und Verantwortlichkeit mit starkem Enthusiasmus unablässig leuchten werden?
CHRISTOPH MUGLIN
ROBERT THOMAS
Heilpädagogik und Sozialtherapie
Mit knapp 50 Institutionen für Heilpädagogik und Sozialtherapie verfügt die Schweiz über ein relativ dichtes Netz von anthroposophischen Initiativen. In den vergangenen Jahrzehnten war aber eine deutliche Verschiebung des Schwergewichtes festzustellen; die Zahl der Institutionen, die Erwachsene mit Behinderungen betreuen (Sozialtherapie), hat zugenommen, während die Zahl der Institutionen, die ausschließlich Kinder betreuen und fördern (Heilpädagogik), rückläufig ist. So ergab eine Erhebung im Jahre 2000, dass in der Schweiz 2500 Menschen mit einer Behinderung in anthroposophischen Institutionen betreut werden. 31 Institutionen widmen sich ausschließlich der Begleitung von Erwachsenen, in 12 leben sowohl Kinder, Jugendliche und Erwachsene und nur noch in zwei Heimsonderschulen werden ausschließlich Kinder betreut. Immer wichtiger und gefragter werden jedoch die Tagessonderschulen, da immer mehr Kinder mit Unterstützung von spezialisierten Diensten und Behörden zu Hause bleiben und eine Tagesschule besuchen können.
Neben einer kleinen Anzahl von Großfamilien kümmern sich einige Institutionen um die Betreuung und Begleitung von psychisch kranken oder suchtgefährdeten Menschen; eine anthroposophisch orientierte Frühberatung und Frühförderung wird an einzelnen Orten angeboten, bedarf aber in Zukunft sicher erhöhter Aufmerksamkeit.
Kuratorium ermöglicht Zusammenarbeit
Bedingt auch durch die überschaubare Größe der Schweiz konnte eine gute Zusammenarbeit aller Fachkräfte und Institutionen etabliert werden. Die einzelnen Fachbereiche treffen sich regelmäßig zur gegenseitigen Wahrnehmung, zum Austausch und zu gemeinsamer Fort- und Weiterbildung. Die heilpädagogischen und sozialtherapeutischen Institutionen sind im Verband für anthroposophische Heilpädagogik und Sozialtherapie im so genannten Kuratorium zusammengeschlossen und treffen sich zweimal jährlich für einen ganzen Tag. Neu wurden die gegenseitigen Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten intensiv beraten und in den "Regelungen der Zusammenarbeit" schriftlich und verbindlich vereinbart.
Dies schafft die Basis, dass gemeinsam an Zeitfragen und Problemen gearbeitet werden kann. Im Moment sind es vor allem die immer stärker spürbaren Reglementierungen und Sparbemühungen durch den Staat, die auf die Institutionen einen gewissen Druck ausüben und zu Einschränkungen zwingen, die sich sehr schnell auf die Qualität der Arbeit auswirken können. Auf der anderen Seite sind es aber auch Fachthemen, wie der Umgang mit älter werdenden Betreuten, das sich verändernde Erscheinungsbild der Kinder und Erwachsenen in den Einrichtungen und das Umgehen mit Gewalt und Aggression im Alltag, mit denen man sich beschäftigt. Gerade das letzte Thema, die Frage nach Übergriffen auf die Integrität von betreuten Menschen, ist sehr aktuell und bedarf großer Beachtung. Es erfordert auf der einen Seite eine gute und transparente Zusammenarbeit nach innen, aber auch die Pflege des Dialoges mit Kolleginnen und Kollegen, die nicht auf der Grundlage der Anthroposophie arbeiten.
Qualitätsverbesserung
Ein Schwerpunktthema der vergangenen Jahre war das Umgehen mit der Forderung der Behörden nach der Etablierung eines Qualitätssicherungssystems in den Heimen und Schulen. Glücklicherweise ist es einer Gruppe von Fachleuten mit Herrn Udo Herrmannstorfer gelungen, mit dem Projekt "Wege zur Qualität" ein von den entscheidenden Stellen anerkanntes Verfahren zu erarbeiten, das die Gesichtspunkte des anthroposophischen Arbeits- und Menschenverständnisses zentral berücksichtigt und zur wirklichen Qualitätsentwicklung und Verbesserung im Alltag führt. Anfang Juni soll auch die "Confidentia", die von "Wege zur Qualität" unabhängige, aber im gleichen Sinn wirkende Zertifizierungsstelle vom Bundesamt akkreditiert werden. Dies bedeutet, dass die ausgebildeten Auditorinnen und Auditoren durch die "Confidentia" die Möglichkeit erhalten, europaweit nicht nur heilpädagogische und sozialtherapeutische Institutionen, sondern auch Altersheime, Ausbildungsstätten, Schulen, psychiatrische Einrichtungen und ambulante soziale Dienste, die mit "Wege zur Qualität" arbeiten, zu auditieren und, von den jeweiligen Ländern anerkannt, zu zertifizieren. Viele Herausforderungen im gesellschaftspolitischen Bereich stehen noch bevor, radikale Änderungen und Umwälzungen vor allem im Bereich der Finanzierung der Institutionen und der Anerkennung von Ausbildungen stehen an. Auf der einen Seite verunsichern diese neuen Fragen, auf der anderen Seite bieten sie aber auch die Chance zur Neubesinnung, zur Neuorientierung und, bei intensiver und konstruktiver Zusammenarbeit auch die Möglichkeit der aktiven Mitgestaltung.
ANDREAS FISCHER
Robert Thomas
Leiter der Koordinationsstelle der Rudolf-Steiner-Schulen in der Schweiz.
Andreas Fischer
Dozent am Rudolf Steiner Seminar für Heilpädagogik in Dornach, Leiter der Fach- und Koordinationsstelle des Verbandes für anthroposophische Heilpädagogik und Sozialtherapie in der Schweiz.