Vom Samisdat zur pädagogischen Alternative
(aus: Waldorfpädagogik weltweit, S. 114-117, Copyright-Hinweise beachten!)
Die ersten Impulse für die Waldorfbewegung in Russland kamen am Ende der 80er-Jahre in der Übergangsphase zwischen Gorbatschows "Perestrojka" und Jelzins "Reformen". Es war eine Zeit großer Hoffnungen und Veränderungen im russischen Bildungswesen. Das russisch-sowjetische Schulsystem, das einen einheitlichen, ideologischen, streng bürokratischen und technokratischen Charakter hatte, wurde auch von der russischen Presse damals stark kritisiert. 1990 wurde Prof. Dneprow zum Bildungsminister ernannt, der zusammen mit der nach ihm benannten "Dneprow-Gruppe" ein neues Schulkonzept erarbeitete. Es bildet die Grundlage des neuen russischen Bildungsgesetzes, das bis heute wegen seines demokratischen und liberalen Charakters hoch geschätzt ist.
Ende der 80er-Jahre wurden die Grenzen geöffnet, sodass man sich alternative ausländische Erziehungskonzepte auch real aneignen und anschauen konnte. Seit September 1988 gab es in Moskau eine "theoretisch" und eine "praktisch" orientierte Arbeitsgruppe zur Waldorfpädagogik. Die Erstere traf sich in der Wohnung von Maria Skriabina (1901-1989), der Tochter des weltberühmten russischen Komponisten, die andere in der Wohnung von Swetlana Usatschewa. Am 13. April 1989 eröffnete die "praktische" Arbeitsgruppe den "Klub Aristotel", in dem ein Kindergarten, Puppentheater und Bastelgruppen für ältere Kinder eingerichtet wurden, und in dem sich Eltern mit Waldorfpädagogik beschäftigen konnten. Ein wichtiger Teil der Arbeit des "Klub Aristotel" bildeten regelmäßige öffentliche Vorträge. Es war ein Ort, an dem verschiedene Menschen zusammenkommen und Waldorfpädagogik kennen lernen konnten. In St. Petersburg wurden zur gleichen Zeit auf der Basis langjähriger Vorbereitungen die ersten Kinderspielgruppen eröffnet. Viele Waldorflehrerinnen und -lehrer aus Europa und den USA fingen an, regelmäßig nach Moskau und St. Petersburg zu kommen und z. T. sogar dorthin zu ziehen, wie z. B. Jørgen Nielsen, Dänemark, Colin Young, USA, Marion Fischbach, Deutschland, Ute Konovalenko, Deutschland und andere. Diese Menschen halfen bei der Gründung der ersten Waldorfschulen. Von März bis Mai 1990 fand in der Bibliothek für ausländische Literatur in Moskau der erste regelmäßige Kurs zur Waldorfpädagogik mit 35 Teilnehmern statt. Durch Gespräche mit Ernst-Michael Kranich, Deutschland, und Walter Liebendörfer, Schweden, wurde beschlossen, in Moskau eine zweijährige Ganztagsausbildung für Waldorflehrer einzurichten.
Aufbau der Waldorflehrerseminare
Das Moskauer Waldorflehrerseminar wurde 1990 anfänglich unter dem Dach der Universität Moskau gegründet und von Anatoly Pinskij unter Mithilfe von Wladimir Sagwosdkin geleitet. Später wurden Fortbildungskurse für Waldorflehrerinnen und -lehrer aus ganz Russland eingerichtet, die als "Periodisches Seminar" unter der Leitung von Colin Young, USA und Jørgen Nielsen, Dänemark, an verschiedenen Orten Russlands stattfanden. Die Absolventen der Kurse gründeten mehrere Waldorfinitiativen in verschiedenen Städten Russlands. Im Winter 1990-1991 gab es zwei Kurse für Kindergartenpädagogik, die im Herbst 1991 zur Gründung eines Kindergartenseminars unter Leitung von Regina Hoeck, Deutschland, führten. Parallel dazu wuchs in St. Petersburg der Kreis der Eltern und Pädagogen, die durch die Spielgruppen, pädagogische Veranstaltungen und öffentliche Tagungen auf die Waldorfpädagogik aufmerksam wurden. 1992 wurde das Waldorflehrerseminar und Kindergartenseminar in St. Petersburg unter der Leitung von Nikolai Petersen und Marion Fischbach, Deutschland, gegründet.
Zu Beginn der 90er-Jahre setzte eine ganze Welle Neugründungen von Waldorfschulen und Waldorfkindergärten ein. Artikel über Waldorfpädagogik konnten in großen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht werden und mehrere Reportagen wurden im Fernsehen gezeigt. Kurse und Vorträge in zentralen Bibliotheken und Universitäten, wie der Herzen-Universität in St. Petersburg, der Universität in Kasan, den pädagogischen Hochschulen in Rjasan und Tobols und der psychologischen Fakultät der Moskauer Universität, erfreuten sich großer Beliebtheit. Vertreterinnen und Vertreter der Waldorfpädagogik wurden in den Weißen Palast (Parlament) aufgenommen. Ein Waldorfkongress versammelte im Herbst 1992 mehr als 700 Menschen in den Räumen der ehemaligen kommunistischen Akademie für Gesellschaftskunde. Aber es gab auch kritische Stimmen. So empfand man es als problematisch, dass in der Waldorfpädagogik kein fester Wissenskanon vermittelt wird, dass der Klassenlehrer seine Klasse acht Jahre lang in den meisten Fächern unterrichtet, dass der frontale Unterrichtsstil tradiert wird und die Waldorfpädagogik nicht immer auf neuere pädagogische, psychologische und wissenschaftliche Forschungen rekurriert.
Erste Schulgründungen
Die ersten russischen Waldorfschulen wurden im Schuljahr 1991/92 in St. Petersburg, Rjasan, Moskau, Shukowskij, Jaroslawl, Samara u.a. eröffnet. Dabei haben die Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners und Günter Altehage, einer der Mitbegründer der Internationalen Assoziation Osteuropa (IAO), entscheidende Unterstützung geleistet. Die erste Waldorfschule "Kreuzinsel" in St. Petersburg wurde mithilfe von Prof. Ernst Schuberth, Deutschland, aufgebaut. Marion Fischbach gründete später das "Zentrum für Erziehungskunst", in dem heute neben einem Kindergarten und einer Schule auch das Kindergartenseminar und eine Arztpraxis mit vier Ärzten untergebracht sind.
Rechtliche, finanzielle, politische Schwierigkeiten
Nach der Phase der ersten Schulgründungen änderte sich Mitte der 90er-Jahre die ökonomische und politische Situation in Russland erneut. Das Klima wurde härter, die liberale Phase war zu Ende. Nachdem die Waldorfschulen schon mehrere Jahre gearbeitet hatten, wurden erste Probleme in der Zusammenarbeit mit Eltern und Behörden deutlich. Einige Waldorfschulen entschieden sich, als staatliche Schulen zu arbeiten, wobei sie an Vorschriften gebunden waren, während andere die staatliche und finanzielle Unabhängigkeit wählten und mit großen ökonomischen Problemen zu kämpfen hatten. Das schon erwähnte liberale Bildungsgesetz, das 1992 angenommen worden war, gab freien und staatlichen Schulen auf dem Papier gleiche Rechte. Staatliche Waldorfschulen müssen ein Prüfungsverfahren der Lizenzierung und Attestierung (Begutachtung) bestehen, um anerkannt zu werden. Um eine solche Lizenz zu erhalten, benötigt eine Schule Unterrichtsräume, die den staatlichen Vorschriften entsprechen und regelmäßig geprüft werden, und eine kompetente Lehrerschaft. Um die Attestierung zu erhalten, müssen sie für drei Altersstufen nachweisen, dass die Schülerinnen und Schüler dasselbe Leistungsniveau wie ihre Altersgenossen haben. Allerdings gibt es bisher noch keine gesamtrussischen Standards, sodass die Attestierung stark von den lokalen Behörden der 89 russischen Regionen bestimmt ist. Die Unterstufe (Klassen eins bis vier) werden vor allem in russischer Sprache und Mathematik geprüft, in der Mittelstufe (Klassen fünf bis neun) wird der Kanon auf Physik, Chemie, Biologie, Geographie, Geschichte, Gesellschaftskunde und Heimatkunde erweitert.
Die staatlichen Lehrergehälter waren nach der politischen Wende in Russland extrem niedrig. Ende der 90er-Jahre erreichten sie ein Niveau von 45 Prozent eines durchschnittlichen Einkommens. Ein Lehrer mit fünf bis zehnjähriger Unterrichtserfahrung erhält ca. 100 $ pro Monat, wobei sich die Preise für Lebenshaltungskosten selbst in Provinzstädten schon längst dem europäischen Niveau angeglichen haben. Umso schwieriger ist es für die nicht-staatlich finanzierten Waldorfschulen, die um ihr Überleben kämpfen müssen.
Die politischen Probleme, mit denen Waldorfschulen in Russland konfrontiert sind, kommen von Seiten der orthodoxen Kirche. 1994 erschienen erste Artikel mit Angriffen gegen die Waldorfpädagogik von verschiedenen Vertretern der orthodoxen Kirche. Im Mai 1994 fand in Moskau das "Internationale christliche Seminar" statt, an dem Vertreter der Russisch-Orthodoxen, der Römisch-Katholischen und der Lutheranischen Kirche (insgesamt mehr als 20 Konfessionen) teilnahmen. Das Seminar verabschiedete eine Erklärung, in der unter Punkt 17 Waldorfpädagogik als rassistisches, okkultes, antichristliches und antisemitisches System charakterisiert wurde. Ende der 90er-Jahre ließ diese Aktivität der Kirche gegen Waldorfpädagogik allmählich nach.
Lizenzierung und Attestierung, ökonomische Engpässe und Angriffe der Orthodoxen Kirche brachten die Waldorfschulen in Russland Mitte der 90er-Jahre in eine schwierige Situation. Obwohl nur wenige Schulen schließen mussten (Ekaterinburg und Kasan), kam das quantitative Wachstum der Waldorfschulen zu einem Ende.
Wie lange soll die Schulzeit dauern?
In Russland gehen die Schülerinnen und Schüler nur elf Jahre zur Schule, verlassen sie also im Alter von siebzehn Jahren. Die jungen Männer müssen mit achtzehn Jahren einen zweijährigen Militärdienst absolvieren, es sei denn, sie besuchen die Universität. Vor dem Hintergrund des langjährigen Tschetschenien-Krieges ist der Wunsch von Schülern und Eltern verständlich, die Universität besuchen zu können; daher wird ein großer Wert auf den Schulabschluss gelegt. Im Westen verabschiedet ein Klassenlehrer seine Klasse in der Regel nach acht Jahren. Die Schülerinnen und Schüler haben dann weitere vier bis fünf Jahre, bis sie ihren Schulabschluss machen. Würde man in Russland die Oberstufe erst in der 9. Klasse beginnen lassen, dann hätte man gerade einmal drei Jahre, um die Schüler auf die Prüfungen vorzubereiten. Insofern besteht die Tendenz, die Klassenlehrerzeit in Russland auf sieben Jahre zu beschränken, was ja auch im Westen diskutiert wird.
Erste Absolventen bestimmen das weitere Schicksal
Mit dem Ende der 90er-Jahre haben die Waldorfschulen in Russland eine neue Etappe erreicht. Die ersten Absolventen verließen die Waldorfschule, und vielen gelang es tatsächlich an die besten Moskauer Universitäten zu kommen. Das weitere Schicksal der Waldorfpädagogik in Russland und die öffentliche Meinung wird stark von den Erfolgen der weiteren Absolventen abhängen. In diesem Zusammenhang kommt der Frage nach der Oberstufe eine entscheidende Bedeutung zu. Durch die IAO konnten viele Fortbildungsveranstaltungen für Oberstufenlehrer organisiert werden.
Inzwischen ist es in der russischen Öffentlichkeit um die Waldorfpädagogik still geworden. Die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Waldorfschulen hat u.a. durch die Gründung der russischen Föderation der Waldorfschulen 1997 zugenommen. Ein ständiger Ort des Austausches bleibt auch das "Periodische Seminar". In den nächsten Jahren werden sich die Waldorfschulen in Russland intensiv mit dem Aufbau der Oberstufe und der Erarbeitung und Verbesserung der Lehrpläne beschäftigen müssen. Auf der einen Seite nehmen Tendenzen der russischen Bildungsbehörden ständig zu, die im Schulsystem Unterrichtsfächer wie z. B. Patriotismus oder Computer schon in der 1. Klasse einführen möchten. Auf der anderen Seite erhalten die Waldorfschulen seit 2000 unerwartete Unterstützung durch die Richtlinien der neuen Schulreform in Russland, die eine Reduzierung des obligatorischen Lernstoffes, den Ausbau des Fremdsprachenunterrichts, verschiedene persönlichkeitsorientierte Ansätze im Bildungsprozess und eine wachsende Zusammenarbeit zwischen Eltern und Schule vorsieht, Reforminhalte also, die die Waldorfpädagogik seit vielen Jahren praktiziert. Aber, da in Russland alles immer in Veränderung begriffen ist, bleibt abzuwarten, wie lange diese Ruhe anhalten wird.
SERGEJ LOWJAGIN
ANATOLY PINSKIJ
Zur Heilpädagogik
In den 90er-Jahren wurden in Russland nicht nur Waldorfkindergärten, Waldorfschulen und Waldorflehrer bzw. Eurythmieseminare gegründet, sondern auch heilpädagogische Heime und entsprechende Ausbildungsstätten. Die heilpädagogische Arbeit in Russland konzentriert sich auf die Städte St. Petersburg, Moskau und Irkutsk, aber auch in kleineren Städten Russlands gibt es erste Initiativen zur Gründung heilpädagogischer Einrichtungen.
St. Petersburg
Dr. Angelika Gäch, Michael Schnell, Hans Dackweiler und andere deutsche Dozenten für Heilpädagogik und Sozialtherapie gründeten ein Seminar für Heilpädagogik, das seit 1994 arbeitet. Aus diesem Seminar gingen zwei Gruppen von Absolventen hervor, ein dritter Kurs wird im Oktober 2001 abschließen. Damit sind etwa 90 Menschen – meist Waldorflehrer, Kindergärtner, Eurythmisten und Ärzte – zu Heilpädagogen geschult worden. Ein vierter Seminarkurs ist in Planung. Er soll im Januar 2002 beginnen und in zwei Klassen eine Gruppe Heilpädagogen und eine Gruppe Sozialtherapeuten ausbilden, denn diese werden bald gebraucht. Die Förderklassen an Waldorfschulen und die heilpädagogische Schule in St. Petersburg haben demnächst viele Abgänger, die sozialtherapeutische Betreuung benötigen.
Seit Anfang der 90er-Jahre schon gibt es in St. Petersburg einen Waldorfkindergarten für Kinder mit besonderen Bedürfnissen, der von Tatjana Platonowa gegründet wurde; 15 Kinder können dort spielen und lernen. In den bestehenden Waldorfschulen gibt es in jeder Klasse einige Kinder mit beträchtlichen Verhaltensstörungen, die von Absolventen des Seminars für Heilpädagogik betreut werden.
Einige Heilpädagogen aus dem genannten Seminar haben eine heilpädagogische Schule in St. Petersburg gegründet, in der zurzeit 12 Kinder heilpädagogisch beschult und therapiert werden. Daneben werden 18 blinde Kinder betreut. Die Schule wächst jedes Jahr um ein bis zwei Klassen. Der Bedarf ist groß.
Aus dem Seminar für Heilpädagogen gingen weitere Gründungen hervor. In Tschebaksary in Mittelrussland wächst eine heilpädagogische und sozialtherapeutische Einrichtung, ebenso in der Ukraine und in Lettland. All diese Aktivitäten brauchen Freunde aus dem Ausland, die die fachliche Arbeit begleiten und beraten und die vor allem die wirtschaftliche Not ausgleichen helfen.
Moskau
In Moskau gibt es das Ausbildungszentrum für Heilpädagogik "Ita Wegman", an dem zurzeit 16 Studierende von acht Dozenten betreut werden, die heilpädagogische Schule "Raphael" mit elf Kindern und Jugendlichen, die heilpädagogische Schule "Unser Haus" mit acht Kindern und sechs Jugendlichen.
HANS DACKWEILER
Dr. Sergej Lowjagin
Physik- und Mathematiklehrer. Seit 1995 Leiter des Verlags "Parzival", der Bücher über Waldorfpädagogik verlegt.
Dr. Anatoly A. Pinskij
Gründung und Leitung der Waldorfschule Nr. 1060 in Moskau, u.a. Vorsitz im "Arbeitskreis Bildungsreform" im Russischen Bildungsministerium.