Dem Cäsar geben, was dem Cäsar gebührt
(aus: Waldorfpädagogik weltweit, S. 108-109, Copyright-Hinweise beachten!)
Umgeben von Slawen und Ungarn bilden die Rumänen eine romanische Sprachinsel weit im Osten Europas. Seit dem Ersten Weltkrieg ist Rumänien ein Vielvölkerstaat mit slawischen, bulgarischen, türkischen und ungarischen Einflüssen. Schon vor dem politischen und gesellschaftlichen Umbruch 1990 erzeugte die Nachricht von den sozialen Unruhen im Land in den Gemütern einiger Persönlichkeiten den Wunsch Waldorfpädagogik auch in Rumänien einzuführen.
Bereits im Januar 1990, gleich nach der Wende, reisten Exilrumänen und Deutsche nach Rumänien und organisierten die ersten öffentlichen Treffen. Die Offenheit der staatlichen Vertreter war damals besonders groß und nicht minder war die Verwunderung, als man dem Erziehungsminister Mihai Sora begegnete, und er gleich in der Einleitung sagte: "Rudolf Steiner ist mir bekannt. Ich freue mich, dass Sie die Waldorfpädagogik in Rumänien einführen möchten." Das Erziehungsministerium hat während der nächsten fünf Jahre eine wichtige Unterstützung für die Entwicklung der Waldorfpädagogik in Rumänien geleistet, indem es die Lehrerinnen und Lehrer, die in einem einjährigen Seminar in Bukarest studierten, voll bezahlte und ihnen Unterkunft in den Studentenheimen gewährte.
Isolierte Waldorfklassen bildeten den Anfang
Die ersten Seminarabgänger kehrten nach dem Studium in ihre Heimatorte zurück und gründeten überall Waldorfklassen an staatlichen Schulen, ohne die Eltern gründlich darauf vorzubereiten. Später gesellten sich den stärkeren Initiativen auch Neuankömmlinge hinzu, sodass sehr schnell ein soziales Problem entstand: die Wohnungsnot der Lehrerinnen. Ein pädagogisches Problem, das diese Entwicklung begleitete, war, dass man eine so ausgebreitete Schulbewegung nur sehr spärlich begleiten konnte. So mussten einige der Initiatoren wieder aufgeben, andere wurden nie besucht und wieder andere suchten sich im Ausland Freunde und Helfer. Die Verteilung von einzelnen Schulklassen veränderte sich in den letzten zehn Jahren von 25 Ortschaften auf inzwischen acht selbstständige Schulen. Es gibt noch etliche Klassengemeinschaften, die sich zusammengehörig fühlen, aber keine selbstständige Schule bilden, d. h. kein eigenes Gebäude und keine eigene Schulvertretung nach außen haben.
Kooperationsvertrag mit dem Erziehungsministerium
Man kann sich nun die gesamte Entwicklung der Lehrerbildung und der einzelnen Einrichtungen gar nicht weiter vorstellen, wenn man all dies nicht begleitet sieht durch die Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners. Ihrem Einsatz beim deutschen Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) ist es zu danken, dass staatliche Fördermittel zur Raumbeschaffung, zur Unterstützung des Bildungspluralismus und der Schulselbstverwaltung in Rumänien zur Verfügung gestellt wurden. Zusammen mit der Federatia Waldorf din România, dem Bund der rumänischen Waldorfschulen und dem Lehrerseminar, sind die Freunde Kooperationspartner in einem Abkommen, das 1996 mit dem rumänischen Erziehungsministerium geschlossen wurde. Dieser Vertrag ist die juristische Grundlage der Zusammenarbeit der Waldorfschulen mit den Behörden.
Lehrerseminar auf dem Weg zur Akkreditierung
1995 änderte sich die Ausbildungssituation, indem das einjährige Studienjahr, das nur als Weiterbildung für staatlich ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer konzipiert war, in eine dreijährige Ausbildung umgestaltet wurde und das Akkreditierungsverfahren für die staatliche Anerkennung begann. Dieses Seminar hat den Charakter einer Kurzzeit-Universitätsausbildung für Lehrer und gibt den Absolventen die Möglichkeit, in das dritte Studienjahr einer anderen Fakultät zu wechseln, um weitere zwei bis drei Jahre zu studieren. Diejenigen Lehrerinnen, die die dreijährige Waldorflehrerausbildung machen, erhalten die Berechtigung, in den ersten vier Klassen als Klassenlehrer sowie die Fächer Sport und Kunst in den Klassen eins bis acht zu unterrichten. Das Klassenlehrersystem ist in Rumänien nicht anerkannt. Einige punktuelle Versuche und geglückte Durchgänge können an den Fingern einer Hand abgezählt werden. Dennoch gibt es einige mutige Kolleginnen, die gegen den Strom geschwommen sind und eine Klasse bis zum Ende des achten Schuljahres geführt haben. Da das Waldorflehrerseminar in Bukarest noch nicht endgültig akkreditiert ist, sind auch andere Aus- und Fortbildungsformen gefragt. Berufsbegleitende Seminare oder Wochenendveranstaltungen sind als örtliche Initiativen in Bacau, Braila, Bucuresti, Constanta, Cluj, Iasi, Simeria, Timisoara und Turda entstanden. Weiterbildungsveranstaltungen in den Ferien, die hauptsächlich mit der großzügigen Hilfe der "Internationalen Assoziation für Waldorfpädagogik in Mittel- und Osteuropa" (IAO) stattgefunden haben, sind seit einigen Jahren eine große Hilfe für den Aufbau der Oberstufen.
Humanistisches Profil
Das rumänische Erziehungsgesetz sieht vor, dass die Oberstufen, Lyzeen genannt, nach Schulprofilen unterteilt werden. Um für Waldorfschulen ein eigenes Profil einzurichten, hätte eine Gesetzesänderung stattfinden müssen. Da die politischen Möglichkeiten der Waldorfbewegung nicht stark genug sind, hat sich das erste Oberstufenkollegium für ein Waldorf-Lyzeum mit humanistischem Profil entschieden. Um die entsprechenden Lehrpläne für das humanistische Waldorf-Lyzeum auszuarbeiten, hat das "Consiliul Nazional pentru Curriculum" Spezialisten bereitgestellt; in dieser Zusammenarbeit sind die Lehrpläne für die Waldorfoberstufe ausgearbeitet und letztendlich ministeriell genehmigt worden. Es ist selbstverständlich nicht leicht, zwischen den Anforderungen des Staates und denen der Waldorfpädagogik hin und her zu pendeln. Da die Finanzierung der Lehrkräfte und der Gebäude durch den Staat erfolgt, muss die rumänische Waldorfbewegung dem Cäsar geben, was dem Cäsar gebührt: die Anstellung der Lehrer, den Stundenplan, sogar manche Inhalte müssen den staatlichen Kriterien angepasst werden, wegen der verpflichtenden Hauptschulreifeprüfungen und des Abiturs.
Broschüren für die Öffentlichkeitsarbeit
Immer mehr Eltern spüren die zunehmende Armut, sie haben zwei Jobs, damit sie das Allernotwendigste für ihre Kinder aufbringen können, und somit immer weniger Zeit für die Schule selber. Die Eltern gründlich und breit über Waldorfpädagogik zu informieren, ist daher schwierig, und so ist man auf Massenmedien angewiesen. Paradoxerweise wurde bei all der großzügigen Unterstützung, die in all den Jahren aus Deutschland, England, Holland, Österreich und Ungarn kam, sehr wenig Material für die Öffentlichkeitsarbeit hergestellt. Das hat sicherlich seine Folgen. Eine große Freude war daher die Herausgabe der "Erziehung zur Freiheit" 1994, sie war schnell ausverkauft. Im Jahr 2000 wurde ein allgemeines Schriftstück über die Waldorfpädagogik erarbeitet und veröffentlicht. Dadurch sind die Waldorfeinrichtungen im sozialen Umfeld und in der Öffentlichkeit bekannter geworden. In der Öffentlichkeitsarbeit wie in der Konsolidierung der Waldorfschulen wird auch in Zukunft eine Priorität liegen.
Zur Heilpädagogik
Vor dem Umbruch 1990 sollten in Rumänien wie in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion Eltern ihre behinderten Kinder staatlichen Institutionen übergeben. Dort wurden sie in einer Art psychiatrischen Anstalt als nicht bildungsfähig verwahrt und dürftig versorgt. Heute gibt es in Rumänien drei heilpädagogische Heime auf anthroposophischer Grundlage in Simeria Veche, Urlati und Bukarest, die alle von Rumänen gegründet und von westlichen Beratern mit aufgebaut wurden. Kinder mit Behinderungen werden dort in Wohngemeinschaften untergebracht oder besuchen als "Externe" die Sonderschule und betreute Werkstätten. Die rumänische Gesellschaft erfährt durch Berichte und konkrete Anschauung, dass auch Kinder mit Behinderungen entwicklungsfähig sind. Mit den staatlichen Behörden besteht eine enge, wenn auch manchmal wegen hierarchischer Strukturen schwerfällige Kooperation, die einen Zuschuss zum laufenden Haushalt einschließt.
LILIANA-EMILIA DUMITRIU
Liliana-Emilia Dumitriu
Seit 1998 Geschäftsführerin der Federatia Waldorf din România und Lehrerin am Lyzeum Waldorf in Bukarest.