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Mitten im Kulturleben Norwegens

(aus: Waldorfpädagogik weltweit, S. 86-87, Copyright-Hinweise beachten!)

Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden einige Norweger auf Rudolf Steiner und seine geisteswissenschaftliche Wirksamkeit in Mitteleuropa aufmerksam. Von 1908 bis 1923 wurde er acht Mal zu Vortragsbesuchen in Norwegen eingeladen; am 23. und 24. November 1921 hielt er zwei pädagogische Vorträge in Oslo – oder Kristiania, wie es bis 1924 hieß.

Bald danach wurden die ersten Versuche unternommen, eine Waldorfschule in Norwegen zu gründen, aber "das Unternehmen kam nicht zustande, weil die erforderliche Anzahl Kinder nicht aufgebracht werden konnte", wie es in einem Brief hieß.1 Unter den Zuhörern der 1921 gehaltenen Vorträge Rudolf Steiners war der junge Schweizer Conrad Englert (1899-1945), der von ihm bereits mehrmals als Lehrer der ersten Waldorfschule in Stuttgart, Deutschland, gebeten worden war, sich aber weigerte, weil er meinte noch zu wenig Lebenserfahrung zu haben. Jetzt wurde er die zentrale Person für die Schulgründung in Norwegen. Die Rudolf Steinerskolen in Oslo begann am 1. September 1926 in der Oscarsgatan 10 mit zwölf Schülerinnen und Schülern, 4 Knaben und 8 Mädchen. Im Laufe des Schuljahres wuchs die Kinderzahl auf einundzwanzig in drei Klassen (1., 3. und 4.). Die verantwortliche Lehrerin der Schule war Signe Roll (später Wikberg, 1894- 1979), eine Norwegerin, die ihre Heileurythmie-Ausbildung in Dornach (Schweiz) gemacht hatte. Signe Roll hatte die Hoffnung, dass Conrad Englert ein ständiger Mitarbeiter an der Schule werden würde, aber schon im Moment der Schulgründung folgte er einem Ruf nach Zürich, um dort beim Aufbau der Rudolf-Steiner-Schule mitzuwirken. An der Waldorfschule in Oslo fand bis zum Jahr 1936 Unterricht statt; dann musste sie wegen verschiedener Schwierigkeiten geschlossen werden. In den folgenden Jahren leiteten Gulle Brun (1899-1988) und Vult Simon (1902-1988) in Oslo einen Waldorfkindergarten, der die Kontinuität bis nach dem Krieg aufrecht erhielt.

1929 wurde die Rudolf-Steiner- Schule in Bergen gegründet. Eine kleine erste Klasse fing in einer Villa im Stadtteil Kalvedalen mit Borghild Thunold (1900-1981) als Lehrerin an. Zwei Jahre später kamen Dan Lindholm und in den folgenden Jahren u.a. Ernst Sørensen (1903-1972), Nils Gustav Hertzberg (1913-1995), Sissi Tynæs (1905-1979) und Jørgen Smit (1916-1991) hinzu. Mit dem Zuwachs schöpferischer Lehrerpersönlichkeiten im Laufe der 30er- und 40er-Jahre erreichte der Unterricht an der Waldorfschule ein hohes fachliches und pädagogisches Niveau, trotz – oder gerade wegen – ärmlicher materieller Umstände. Ständig musste man von einem gemieteten Schulhaus in ein nächstes umziehen. Die Schule wurde sogar während der deutschen Besatzungszeit 1940-45 in einer katakombenartigen Existenz aufrechterhalten.

Ein Schweizer impulsiert den Wiederaufbau

In Oslo entstand nach dem Kriegsende 1945 eine neue Waldorfschule, zu der eine junge Generation die Initiative ergriffen hatte. Für die neuen Lehrer in Oslo wie in Bergen wurde Conrad Englert wiederum zum Inspirator. 1936 verließ er Zürich und blieb bis zu seinem Tode am 1. Dezember 1945 in Oslo, Jahre, in denen er neben seiner Arbeit als Schriftsteller eine reiche Vortragstätigkeit entfaltete.

In Bergen und Oslo wurden die "Englert-Schüler" eine geistig produktive Lehrergruppe. Sie suchten und fanden vergessene Schätze aus dem Kulturerbe: Märchen und Lieder, sie knüpften an die Tradition der nordischen Volkshochschulen an, in denen das lebendige Wort gepflegt wurde. Sie dichteten Schauspiele, Gedichte und Erzählungen, komponierten Musik, inszenierten Theater und Opern mit den Kindern, und vertraten auf weltmännische Art die Waldorfpädagogik in Schrift und Rede. Einige schrieben in Zeitungen regelmäßig über Kunst- und Kulturfragen und wurden als fähige Schriftsteller bekannt. Immer vertraten sie eine spirituelle Weltauffassung und konnten über materialistische Dekadenz-Erscheinungen der Zeit auch scharfe Worte gebrauchen. Bis ungefähr 1970 bildeten die Anthroposophen einen nicht unbedeutenden Einschlag im Kulturleben Norwegens – bewundert und auch gefürchtet.

Wendepunkt 1970

Das Jahr 1970 wurde in vielfacher Art ein Wendepunkt in der Geschichte der Schulbewegung. Mit der Steinerschule in Bærum 1971 begann das große Wachstum der Waldorfbewegung in Norwegen. Von 1970 bis 2000 gab es durchschnittlich eine neue Schulgründung pro Jahr. Das Wachstum wurde durch ein neues Privatschulgesetz gefördert, das am 6. März 1970 nach sechsjähriger Vorbereitung vom Parlament verabschiedet wurde. Die Schulen in Bergen und Oslo hatten bis 1970 keinerlei staatliche Zuschüsse erhalten. Nach vielen Jahren der Verhandlung bekamen sie einige Zuschüsse von den Stadtgemeinden, aber das waren nur kleine Summen. Mit dem neuen Gesetz wurden 85 Prozent der Betriebskosten vom Staat übernommen, für die Infrastruktur mussten die Schulen allerdings weiterhin selbst aufkommen, sodass der Zuschuss insgesamt 65 Prozent der Gesamtkosten abdeckte.

Das Jahr 1970 brachte auch für die Dauer der Schulzeit entscheidende Veränderungen. Führten die Waldorfschulen bis 1970 entsprechend der gesetzlich festgelegten Volksschulzeit nur bis zur 7. Klasse, so wurden sie 1967/68 mit der Einführung der obligatorischen neunjährigen Schulpflicht bis zur 9. Klasse erweitert. Der Aufbau der Oberstufe dauerte weitere zehn Jahre. Die erste zwölfte Klasse machte ihren Abschluss 1980 in Bergen, die nächste 1981 in Oslo. Durch lange Verhandlungen mit den Behörden kam es zu der bis heute gültigen Regelung, dass das notenfreie Zeugnis der Waldorfschule am Ende der 12. Klasse und die Jahresarbeit denjenigen Schülerinnen und Schülern, die das entsprechende fachliche Niveau erreicht haben, den Zugang zu den Hochschulen und Universitäten unmittelbar ermöglicht.

ODDVAR GRÅNLY

1 In einem Brief vom März 1925 schrieb Conrad Englert an Walter Wyssling in Zürich rückblickend, dass man drei Jahre vorher eine Schule in Norwegen zu gründen versucht hatte. Aus: Briefwechsel zwischen C. Englert und W. Wyssling. Mitteilungen der Züricher Waldorfschulen, Nr. 59, Mai 1976, S. 12.

Zur Heilpädagogik

Die heilpädagogische Arbeit in Norwegen wurde 1938 von Solveig Nagel in Hellström begonnen, heute die Granly Stiftung in Toten, Süd-Norwegen. Auch im Norden des Landes begann eine heilpädagogische Initiative. Von Anfang an wurden hilfsbedürftige Kinder als Schüler in den norwegischen Waldorfschulen integriert. Die heilpädagogische Arbeit war daher auch Teil der täglichen Schularbeit. Signe Roll, die 1926 die erste norwegische Waldorfschule gegründet hatte, gehörte zu den Lehrerinnen, die sich besonders der heilpädagogischen Arbeit widmeten. Auch nach der Wiedereröffnung der Schule konnte sie unzähligen Kindern mit Lernschwierigkeiten helfen. Allmählich wurde aber klar, dass die Kinder mit Lernschwierigkeiten einer eigenen Schule bedurften, um wirklich gefördert zu werden. Zu diesem Zweck wurde die heilpädagogische Schule Hestafibel gegründet, die Mitte der Siebzigerjahre aus politischen Gründen schließen musste. Die norwegischen Behörden drangen damals darauf, Kinder mit Lernschwierigkeiten in den öffentlichen und freien Schulen zu integrieren. Seitdem wird der Versuch gemacht, Sonderklassen in Waldorfschulen einzurichten, was seit 1982 in Hedemarken und seit 1988 in Skojold bei Bergen gelungen ist.

IDA-MARIA RIEBER

Oddvar Grånly
Waldorflehrer. Waldorflehrerseminar in Oslo. Tätigkeiten in der anthroposophischen Gesellschaft und in einem anthroposophischen Verlag.

Ida-Maria Rieber
Aktiv in der Entwicklung der heilpädagogischen und sozialtherapeutischen Ausbildung und dem kulturellen Leben von Helgeseter.

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