Visionen von unbegrenzter Toleranz und Offenheit
(aus: Waldorfpädagogik weltweit, S. 60-63, Copyright-Hinweise beachten!)
Als Rudolf Steiner 1923 vor der Gründung der ersten Waldorfschule in Holland gefragt wurde, wie denn die Schulen in diesem Land heißen sollten, schlug er vor, sie "Freie Schulen" zu nennen. Unter diesem Namen existieren heute 94 Schulen in diesem doch recht kleinen Land mit nur 15 Millionen Einwohnern. Gerade jetzt, im Jahr 2001, in dem es diese freien Schulen in Holland seit 78 Jahren gibt, liegt ein für eine so kleine Schulbewegung gewaltiger Schritt hinter ihr.
Weil der Gesetzgeber den Ausnahmestatus der freien Schulen nicht länger erhalten konnte oder wollte, musste die Schulstruktur grundlegend verändert werden. Lehrpläne wurden neu geschrieben, ein Mittelstufenkonzept erarbeitet und die ganze Oberstufe mehr oder weniger neu gebildet, d. h., es musste ein Konzept erarbeitet werden, worin alle Schulabschlüsse innerhalb der zwölf-jährigen Schulzeit absolviert werden können. Hinzu kamen große organisatorische Veränderungen, um die Existenz der Oberstufen sicherzustellen. In Holland gibt es jetzt große freie Schulen, z. B. in Rotterdam, Den Haag und Leiden, die pädagogisch vollkommen selbstständig sind und in drei Oberstufen insgesamt weit über 1000 Schülerinnen und Schüler unterrichten, verwaltungsmäßig aber eine Schule darstellen.
Was ist das Ergebnis dieser Reform?
Die Umstrukturierung ist für die Beteiligten ein Lehrstück gewesen, da man vor der Aufgabe stand, den Impuls der freien Schule zum Teil von deren Form loszulösen. Bei diesem Vorgang musste die Frage beantwortet werden, welche Formen den Inhalt oder den Impuls bedingen. Der holländische Bund der freien Waldorfschulen war so weise, diesen ganzen Prozess der Erneuerung nur der Organisation nach zu ermöglichen; die tatsächliche Arbeit wurde von zahllosen, wohl koordinierten Arbeitsgruppen tätiger Lehrerinnen und Lehrer, von Kollegen aus dem pädagogischen Begleitungsdienst (LSBD) und von Mitarbeitern des Lehrerseminars geleistet. Dadurch entstand eine Gesamtaktivität, die stark von den Schulen selber getragen wurde. Auch die Elternschaft wurde durch mehrere Publikationen über die neuen Formen informiert, nachdem sie zuvor um ihre Meinung zur Ausrichtung der Schulen in der Zukunft befragt worden war. Die Arbeit wurde innerhalb der dafür festgelegten Zeit geleistet. Jetzt ist ein Jahr angebrochen, in dem die Schulen mit der neuen Struktur zu arbeiten beginnen. Wird es möglich sein, dass man weiterhin aus dem Geist der freien Schulen arbeiten und zum Wohle der Kinder schöpferisch tätig sein kann?
Als sei etwas los
Oft fragt man sich, ob etwas von der Pädagogik der freien Schulen außerhalb der Schule wirksam ist. Bedeutet sie etwas in der bildungspolitischen Diskussion? Einerseits wird die Regelschule tatsächlich freundlicher und offener, andererseits erlebt man doch stark das kälter werdende Klima bei der Frage nach einer menschengemäßen Erziehung.
Auf der einen Seite wurde vieles aus der Pädagogik der freien Schulen übernommen, so z. B. Handarbeit, Musikunterricht, Fremdsprachendidaktik und die Idee des Epochenhefts, auf der anderen Seite kann man auch erleben, wie die Kluft gerade dort größer wird, wo man sieht, wie das letzte künstlerische Element von der brutalen Kaltschnäuzigkeit der Computer aus den armen Schulen verdrängt wird, wo langsam das Gesetz der Straße in den Großstadtschulen einzieht.
Dieser Tatbestand spiegelt sich heute in der öffentlichen Meinung: war früher eine Achtung vor dem Andersartigen da (1950), lag die freie Schule eine Zeit lang voll im Trend –, man war modern, wenn man sein Kind in die freie Schule schickte (1960-1980) –, dann erfährt heute die Schule Achtung von Kennern, Ignoranz der großen Schulmehrheit (die freien Schulen stellen ungefähr ein Prozent der Schulen dar) und heftige Gegnerschaft vor allem aus Medienkreisen. So hat sich der halb bewusste Gedanke in die Öffentlichkeit geschlichen, dass mit den freien Schulen "etwas los wäre". Es ist lästig, sich den diversen Anschuldigungen zu erwehren, da sie immer andere Formen annehmen.
Hinzu kommt, dass an den freien Schulen tatsächlich auch etwas auszusetzen ist, wie überall da, wo mit Kindern gearbeitet wird, sind sie doch Stätten der Entwicklung. Man stellt jedoch fest, dass Fehler bei den freien Schulen von den Medien anders gewichtet werden als bei den Regelschulen. Aber auch hier liegt wieder eine Chance: nur die von den Schulen erbrachte Erziehungsqualität wird auf Dauer entscheiden.
Große Freiheiten, aber ein Wermutstropfen
Bei vielen weckt das Wort "Holland" Visionen von unbeschränkter Toleranz und Offenheit gegenüber dem Andersartigen. Es ist auch so. Die Schulen sind voll subventioniert, das Lehrerseminar auf eine Weise anerkannt, dass, wer dort sein Diplom gemacht hat, auch an Regelschulen unterrichten kann, ja sogar die Eurythmie ist als eine Tanzrichtung für die Schulen seit 1982 anerkannt; auch die Eurythmie-Ausbildung erhält staatliche Unterstützung.
Was man nicht sieht, ist eine intelligente Bildungsbürokratie des Ministeriums, die durch eine Unzahl feinmaschiger Maßnahmen, durch Inspektionen, durch Test- und "Ergebnis"-Zwänge, durch Gründungsbedingungen, die keine freie Schule mehr leisten kann (wodurch tatsächlich auch keine freien Schulen mehr gegründet werden), schon des Öfteren für eine gründliche Atemnot der Lehrer und Eltern gesorgt haben.
Trotzdem sind wir auf dem Wege der Integration. Die freien Schulen sind ein nicht wegzudenkender Bestandteil der Bildungslandschaft in Holland geworden.
Die erste freie Schule in Holland begann im Herbst 1923 in Den Haag. Es war die erste Waldorfschule außerhalb Deutschlands. Sie wurde gegründet aus der Begeisterung für die Erneuerung der Kultur durch die Geisteswissenschaft; die Gründungslehrer holten sich die Erlaubnis dazu bei Rudolf Steiner in Stuttgart. Zwei Namen stehen da wie Sterne um diese Gründung, wie Gefäß und Inhalt: Pij Drooglever-Fortuyn (1873- 1959), die dafür sorgte, dass es geschehen konnte, und Daan van Bemmelen (1900-1982), der die brennende Fackel der menschengemäßen Erziehung aus Stuttgart holte.
CHRISTOF WIECHERT
Zur Heilpädagogik
Schon seit 1930 gibt es in den Niederlanden heilpädagogische und sozialtherapeutische Institutionen. Inzwischen ist die Zahl der Einrichtungen auf 28 angewachsen. In den letzten Jahren unterzogen sich auch die heilpädagogischen und sozialtherapeutischen Heime genauso wie die freien Schulen einem starken Strukturwandel. "Individualisierung" und "Betreuung nach Maß" sind zwei von der holländischen Regierung vorgegebene Schlagwörter, welche dieniederländische Heilpädagogik umkrempeln und neue Sozialformen fordern.
Betreuung nach Maß
Der Begriff "Betreuung nach Maß" spielt bei der Individualisierung eine wichtige Rolle. Ausgangspunkt ist das Betreuungsbedürfnis des zu Betreuenden, darauf muss das Angebot abgestimmt werden. Es klingt einfach, Betreuung nach Maß: nur dasjenige anbieten, was diese Person benötigt. In der Praxis ist dies aber gar nicht so leicht zu verwirklichen. Die verschiedenen Möglichkeiten sind noch sehr beschränkt, aber entwickeln sich schnell.
Personengebundener Haushalt
Auf finanziellem Gebiet kommt die Individualisierung der Betreuung am deutlichsten im personengebundenen Haushalt zum Ausdruck. Dies bedeutet, dass die finanziellen Mittel nicht länger an die Institution, den Anbieter der Betreuung, sondern an den Betreuten gebunden sind. D. h., der Betreute selber oder seine Eltern erhalten aufgrund einer Indikation einenbestimmten Betrag zugewiesen, mit dem sie sich dort, wo sie es wünschen, Betreuung "kaufen" können. Die meisten Subventionsgelder fließen aber noch direkt den Institutionen zu.
Einbeziehung des Betreuten und seiner Angehörigen
Beim Zustandekommen der Betreuungs- oder Begleitungspläne sind die Eltern und/oder der Betreute selber einbezogen. Wenn es sich um Kinder handelt, wird die Verantwortung und Zuständigkeit der Eltern von den Betreuungs-Institutionen anerkannt. Die Betreuung wird nicht gänzlich übernommen, sondern mit den Eltern geteilt. Die Eltern kommen nicht nur bis zur Eingangstüre, sondern bis ins Schlafzimmer hinein. In den Einrichtungen für Erwachsene geschieht es immer öfter, dass die Betreuten selber bei den Besprechungen anwesend sind. Ihre Einwände und Wünsche werden sehr ernst genommen. Ein gutes Einverständnis mit den Eltern und Betreuten ist dabei Voraussetzung.
Netzwerke von Einrichtungen
Für die Einrichtungen bedeuten "Individualisierung der Betreuung" und "Betreuung nach Maß", dass sie mehr mit anderen Institutionen zusammenarbeiten müssen; und manchmal kann eine Fusion nützlich sein. Erstaunlicherweise bedeutet Individualisierung der Betreuung auch eine Erweiterung der Organisationen. Es ist jedoch nicht so, dass die Einrichtungen an sich größer werden, vielmehr entstehen Netzwerke von kleineren Initiativen. Oft gründen solche Netzwerke zusammen eine Beratungsstelle, die Menschen mit ihren Fragen besuchen können und in welchen versucht wird, eine Antwort auf die Betreuungsfragen zu finden.
Neue Formen der Betreuung
Bei sorgfältiger Abstimmung von Betreuungsangebot und Betreuungsnachfrage zeigt sich immer öfter, dass eine auswärtige Unterbringung nicht erwünscht ist, vor allem bei Kindern, und dass andere Formen der Betreuung besser geeignet sind. So werden in den letzten Jahren immer mehr Plätze in Tagesstätten angeboten, wo nötig in Kombination mit Übernachtungsmöglichkeiten und praktischer pädagogischer Familienbegleitung. Dieses letztere nennt man auch ambulante Heilpädagogik. 1996 wurde erstmals mit einer Ausbildung für dieses neue Fach begonnen. Der Staat übt Druck aus, damit interne Einrichtungsplätze in andere Formen der Betreuung umgewandelt werden. Die politische Leitlinie ist darauf ausgerichtet, dass in den kommenden Jahren schrittweise ca. 30 Prozent der Einrichtungsplätze in andere Betreuungsformen umgewandelt werden. Für Erwachsene stehen immer mehr kleine Häuser zur Verfügung, wo vier oder fünf Personen zusammen wohnen und betreut werden.
Eine weitere auffallende Entwicklung in den Niederlanden ist das Bedürfnis nach einer Kombination von Landwirtschaft und Betreuung. Der Begriff "Betreuungshof" ist entstanden und beinhaltet sowohl eine Neuerung in der Landwirtschaft als auch in der Betreuung. In der anthroposophischen Sozialtherapie existiert schon von Anfang an eine solche Verbindung von Betreuung und Landwirtschaft. Gesellschaftlich ist großes Interesse für die Erfahrungen, die damit gemacht worden sind, vorhanden. Der Verband für Heilpädagogik in den Niederlanden entwickelt zz. zusammen mit der Fachschule für Biologisch-Dynamische Landwirtschaft eine Ausbildung für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in integrativen Landwirtschaftsbetrieben. Dieses Projekt wird von der Behörde finanziert.
Die fortschreitende Individualisierung der Betreuung und die bewusste Planung gehören dem Geist der heutigen Zeit an. Es ist eine Übung, wirkliches Interesse für einen anderen Menschen aufzubringen. Die Aufgabe lautet, die Begegnung einzugehen und daraus in der entstehenden Situation zu handeln. Es braucht neue Formen von Gemeinschaftsbildung, oder besser gesagt, von Solidarität.
Die Schattenseiten von weitgehender Bürokratisierung sind jedoch auch deutlich spürbar. Die neuen Indikationsstellungen, die personengebundenen Budgets, die neuen Richtlinien bringen eine Flut von Formularen mit sich, und immerzu droht soziales Chaos. Es verlangt von den Einrichtungen eine kreative Verwaltungstätigkeit und wie bei anderen Unternehmerinnen und Unternehmern die Fähigkeit, mit Unsicherheiten leben zu können. Das Gleiche gilt für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, von denen eine andere Einstellung und neue Fähigkeiten erwartet werden.
TRUIDA DE RAAF
Christof Wiechert
30 Jahre Lehrer in Den Haag; seit 1999 an der Pädagogischen Sektion in Dornach, Schweiz.
Truida de Raaf
Beratung heilpädagogischer und sozialtherapeutischer Einrichtungen sowie Dozentin an einer Hochschule. Maßgeschneiderte Betreuung für Kinder mit Behinderungen.