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Vom Dach der Welt

(aus: Waldorfpädagogik weltweit, S. 130-131, Copyright-Hinweise beachten!)

Im Juni 2000 wurde der erste Waldorfkindergarten in Katmandu eröffnet, Keim einer ersten Waldorfschule in Nepal. Mit Hilfe von Lehrern und Eltern wurde die Halle einer früheren Teppichfabrik renoviert und zwei Gruppen der Tashi Waldorfschule dort untergebracht. Im Juni 2001 wurde eine dritte Gruppe eröffnet.

Pionierin aus Israel

Der Gründungsimpuls ging von Meyrav Mor aus Israel aus, die in den USA zur Waldorfkindergärtnerin ausgebildet worden war. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, mit unterprivilegierten Kindern in Nepal zu arbeiten, was ihr vier Jahre lang in einem Waisenhaus gelang. Parallel dazu bildete sie Nepalesinnen zu Waldorfkindergärtnerinnen an einem von ihr gegründeten Kindergartenseminar aus.

In Nepal werden viele Kinder von ihren Eltern verlassen. 90 Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze und viele Eltern fühlen sich nicht in der Lage, für ihre Kinder zu sorgen. Durch ihre Erfahrung im Waisenhaus erkannte Meyrav Mor einige wesentliche Probleme. Erstens gab es wenig oder gar keine Unterstützung für Eltern in Schwierigkeiten, die ihre Kinder zu Hause behalten. Zweitens waren die Grundbegriffe von frühkindlicher Erziehung weder der Regierung noch den Privatschulen vertraut. Es fehlte an Ausbildungsmöglichkeiten sowie an größerer Beteiligung der Eltern an der Erziehung ihrer Kinder.

Mut zur Erziehung der eigenen Kinder

Daraufhin entschied sich Meyrav Mor, mit gefährdeten Kindern zu arbeiten, die noch in ihren Familien wohnen, und eine Schule zu gründen, die Eltern ermutigt, sich an der Erziehung ihrer Kinder zu beteiligen. Auf diese Weise können die Eltern weiterhin die Verantwortung für ihre Kinder übernehmen, erhalten darin aber Rat und Unterstützung. Von Anfang an haben sich die Lehrerinnen bewusst um die Familien der Kinder gekümmert, ihnen handwerkliche Kurse angeboten und Elternabende veranstaltet, in denen die Eltern pädagogische Fragen besprechen können. Die Eltern sind ebenfalls eingeladen, an den Lehrerbildungskursen der Tashi Waldorfschule teilzunehmen. Jede Familie zahlt entsprechend ihrer Einkommenslage Schulbeiträge. Indem sie entweder Zeit oder Geld einbringen, entwickeln die Eltern eine starke Verbindung zum Kindergarten und zur Erziehung ihrer Kinder.

Um eine Atmosphäre von Zugehörigkeit und Gleichheit zu schaffen, wurden Kinder aus den unterschiedlichsten sozialen, finanziellen und kulturellen Hintergründen aufgenommen. Für Nepal ist das besonders wichtig, weil es wegen der Kastenzugehörigkeit und ausgeprägterGesellschaftsschichten große soziale Barrieren gibt. Dadurch, dass unterschiedliche Kinder in jungem Alter zusammen lernen, können Diskriminierung und Vorurteile bereits dann angegangen werden, wenn sie entstehen.

Kultur des Himalaya

Zentral für den Lehrplan in Kindergarten und Ausbildung war die Entwicklung eines Programms, das an die Tradition und Kultur Nepals anknüpft. Meyrav Mor enwickelte durch ihre Erfahrungen in der Praxis einen Modell-Lehrplan, der Elemente der Waldorfpädagogik mit der Kultur des Himalaya verbindet. Dieser Lehrplan wird unter dem Titel "Feuer im Herzen" in drei Bänden veröffentlicht. Der erste Band beschreibt kulturelle, bildungspolitische, künstlerische und religiöse Voraussetzungen in Nepal und die Art und Weise, wie sie in das Lehrerbildungsprogramm integriert werden können. Der zweite Band wird sich mit der frühkindlichen Erziehung auseinandersetzen und Band drei wird den Kindergärtnern Material in nepalesischer Sprache an die Hand geben, u. a. Lieder, künstlerische und handwerkliche Tätigkeiten und Geschichten für kleine Kinder.

Die kulturellen Wurzeln pflegen

Viele der künstlerischen Traditionen Nepals sind im Schwinden begriffen. Da die Verbindung zu Sprache, Kultur und Tradition in einer schnell sich modernisierenden Welt für Identität und ein positives Selbstverständnis ausschlaggebend sind, integrierte Meyrav diese in ihre Methodik der Waldorfpädagogik. Künstlerische, handwerkliche und Bewegungsfächer sind für die Waldorfpädagogik von zentraler Bedeutung. Der Dialog zwischen westlichen Künsten und nepalesischen Traditionen wird dazu dienen, das wechselseitige Verständnis zwischen Ost und West zu fördern. Wichtig ist das respektvolle gegenseitige Kennenlernen fremder Kulturen, denn ein Fortschritt, der in der Erziehung ansetzt, sollte nicht mit den kulturellen und religiösen Wurzeln brechen.

Eine multikulturelle Gesellschaft

In Nepal leben viele verschiedene kulturelle Gruppen nebeneinander, u. a. Hindus, Tibeter, Newari und Bevölkerungsgruppen aus den Bergen. Diese Bevölkerungsgruppen wanderten vom Süden und vom Norden her durch das Himalayagebirge ein. Auf nepalesischem Boden trafen sich Indo-Aryanische und orientalische

Einwanderer, die jahrhundertelang friedlich nebeneinander lebten und ihre eigenen kulturellen Traditionen wahrten. Daher gibt es in Nepal ein reiches und vielfältiges kulturelles Erbe mit vielen Sprachen, Traditionen und Festen. Die Hauptreligionen sind Buddhismus, Hinduismus und Schamanismus. Der Lehrplan spiegelt diese Vielfalt. Im Kindergarten werden Feste verschiedener Ethnien gefeiert. Auf den Jahreszeitentischen1 gibt es hinduistische und buddhistische Statuen, sodass die Kinder beiden Religionen mit Achtung begegnen lernen. Indem mit traditionellen Geschichten und Versen gearbeitet wird, bekommen die Kinder eine positive Einstellung zu ihrer Kultur im Kontext der modernen Zivilisation. Auf diese Weise kann Waldorfpädagogik den Übergang von der traditionellen zur modernen Zivilisation überbrücken helfen, ohne dass die Kinder großen Schaden nehmen. Selbst die Mahlzeiten spiegeln die Vielfalt des Katmandu-Tals, die entweder nach nepalesischen, tibetischen oder indischen Rezepten zubereitet werden. Auf diese Weise erfahren die Kinder die vorhandene Vielfalt und entwickeln ein positives Verständnis. Die Freundlichkeit und Fürsorge, die der Tashi Waldorfschule von ihren Partnerschulen in der ganzen Welt entgegen kommen, gibt Lehrern und Kindern außerdem eine positive Sicht auf die Welt außerhalb Nepals.

Das Herz sprechen lassen

Gefragt zum Thema Waldorfpädagogik, antwortet Chandra, eine der nepalesischen Waldorfkindergärtnerinnen: "In einem Waldorfkindergarten dürfen die Kinder ihren Willen und ihre Gefühle ausleben. Sie sind frei, ihr Herz sprechen zu lassen. In dieser Freiheit lernen sie mit Vertrauen ihre Fähigkeiten zu gebrauchen. Alle Menschen benötigen diese Freiheit. Kinder können im Waldorfkindergarten in ihrem eigenen Rhythmus aufwachsen, ohne Druck und ohne Stress."

Leistungsdruck kontra freies Spiel

Das bildungspolitische Klima in Nepal favorisiert zurzeit ein extrem frühes Lesen-, Schreiben- und Rechnen-Lernen der kleinsten Kinder. Die Idee, dass der spätere berufliche Erfolg von den akademischen Fortschritten in den ersten Kindergartenjahren abhängt, wird überall verbreitet. Das hängt damit zusammen, dass für die ersten Kindergärten der Lehrplan für die 1. Klasse verwendet wurde. Kinder müssen bereits im Alter von drei Jahren Hausaufgaben machen und Prüfungen ablegen. Es gibt keine Zeit zu spielen oder kreativ zu sein. Traditionelle Unterrichtsmethoden und Auswendiglernen dominieren. In Fachkreisen wächst allmählich das Interesse an alternativen Methoden der frühkindlichen Erziehung. Eltern werden sich langsam bewusst, dass Kinder, die im Kindergarten zu viel lernen müssen, manchmal Schwierigkeiten in der Schule bekommen; sie leiden an Erschöpfung und verlieren die Freude am Lernen.

Waldorfpädagogik bildet eine Alternative zu diesem Erziehungssystem. Daher bietet die Tashi Waldorfschule einen Teilzeitausbildungskurs an, an dem auch Kindergärtnerinnen aus traditionellen Kindergärten teilnehmen. Die frühkindlichen Entwicklungsstufen und die Wichtigkeit des freien Spiels für die spätere Entwicklung werden auf diese Weise weiten Kreisen mitgeteilt. Waldorfpädagogik fängt also an, sich in Nepal zu verwurzeln.

FIONNUALA DAFFY

1 Element der Waldorfpädagogik für das Kindergartenalter. Die Kinder erleben die verschiedenen Jahres- und Festeszeiten mit.

Fionnuala Daffy
Lehrerin an einer Primarschule. Zurzeit Fundraising und Öffentlichkeitsarbeit für die Tashi Waldorfschule in Katmandu.

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