Unter dem Dach des Staates
(aus: Waldorfpädagogik weltweit, S. 94-95, Copyright-Hinweise beachten!)
Litauen ist die südlichste und größte der drei baltischen Republiken. Die Landschaft ist geprägt von lichten Wäldern und unzähligen Seen. Der größte Fluss ist der Nemunas (Memel), der mit einem mehrarmigen Delta in das Kurische Haff der Ostsee mündet. In den Jahren nach der Wende hat Litauen wie alle osteuropäischen Länder eine schwere wirtschaftliche Krise durchlitten. Die wirtschaftliche Lage scheint sich aber zunehmend zu konsolidieren. Das litauische Schulsystem ändert sich nur langsam wie z. B. durch den 1992 getroffenen Beschluss humanistische Elemente des nationalen Lehrplans zu verstärken. Erst seit kurzem gibt es die Erlaubnis, Privatschulen zu gründen. Die Waldorfschulen allerdings bleiben unter dem Dach des Staates, damit auch Kinder aus bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen eine solche Schule besuchen können.
Kontakte in alle Richtungen
Die ersten Impulse zur Waldorfpädagogik in Litauen kamen nach der Wende aus Tallinn und Moskau. Vor dem Zweiten Weltkrieg soll es allerdings schon einmal Vorlesungen über Waldorfpädagogik an der pädagogischen Fachhochschule von Marianpole gegeben haben. 1992 entstanden innerhalb einer staatlichen Schule erste Waldorfklassen in Kazlu Ruda, 1995 in Kaunas und in Vilnius. Seit 1999 gibt es auch eine Initiative, die auf dem Feld der Heilpädagogik tätig ist. Weitere Initiativen der Waldorfpädagogik gibt es in Panevezys, Igonava, Utena, Silute, Kleipeda, Druskine und Kupiskes. Die Pädagogische Arbeit wurde durch Vorträge über Waldorfpädagogik begleitet, die in den Jahren 1992-1996 vom "Periodischen Seminar in Moskau" und in den Jahren 1996-1999 von Dozenten aus Dänemark gehalten wurden. Die Fortbildungsseminare über Waldorfpädagogik konnten seit 1993 im "Waldorfzentrum" stattfinden, eine Art Bund der freien Waldorfschulen in Litauen, der mit tatkräftiger Unterstützung von Danute Ziliene, der Mentorin vieler Lehrerinnen, aufgebaut worden ist. Kurse über Waldorfpädagogik finden auch an dem staatlichen pädagogischen Weiterbildungsinstitut in Vilnius statt.
Übersetzungen ins Litauische
Im Jahr 1996 erschien die erste Literatur über Waldorfpädagogik auf Litauisch. Gintautas Simeta (1965-1999), der zwischen 1993 und 1996 in Stuttgart Waldorfpädagogik studierte, hatte vor seinem frühen Tod zusammen mit seiner Frau das Buch: "Die Gesunde Entwicklung des Leiblich-Physischen als Grundlage der freien Entfaltung des SeelischGeistigen" (GA 303) von Rudolf Steiner übersetzt. Inzwischen ist ein zweites Buch von Rudolf Steiner auf Litauisch erschienen: "Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft" (GA 34).
Der Staat als Last und Stütze
Alle drei Waldorfschulen in Litauen werden bisher zum großen Teil vom Staat finanziert. Elternbeiträge sind zwar verboten, werden aber auch an den staatlichen Schulen verlangt. Sie sind u. a. notwendig zur Finanzierung des künstlerisch-handwerklichen Unterrichts und der Eurythmie, aber auch zur Instandhaltung und Renovierung der Gebäude. Aufgrund der Einbindung in das staatliche Schulsystem müssen immer wieder Kompromisse mit dem staatlichen Lehrplan gesucht werden. In den Klassen vier, acht und zwölf müssen Schülerinnen und Schüler durch Prüfungen beweisen, dass sie dasselbe Leistungsniveau erreicht haben wie ihre Mitschüler an konventionellen Schulen. Zwar kann der Epochenunterricht uneingeschränkt durchgeführt werden, die Klassenlehrerzeit muss jedoch von acht auf sechs Jahre reduziert werden.
Kultur ist in Litauen immer noch stark mit kirchlichen Traditionen verbunden; 80 Prozent der Bevölkerung sind Katholiken. Kritik an Waldorfpädagogik kommt von kirchlicher Seite und wurde vor kurzem dem Bildungsministerium zugespielt. Der Bund der freien Waldorfschulen in Litauen möchte sich dafür einsetzen, dass Waldorfschulen künftig als freie Schulen vom Staat anerkannt werden. Aus rechtlichen wie wirtschaftlichen Gründen ist eine solche Anerkennung bisher nicht möglich. Da die Fragen an die Waldorfpädagogik durch das Bildungsministerium zunehmen, wird zurzeit an einer Neufassung des Lehrplans für Waldorfschulen gearbeitet, der den Forderungen des Bildungsministeriums entspricht. Hierzu hat sich eine Expertengruppe gebildet, in der Vertreter des Bildungsministeriums, des nationalen pädagogischen Instituts und der Waldorfklassen zusammenarbeiten. Eine Lösung wäre z. B. die Einführung von zwei Klassen lehrern ab der vierten Klasse jeweils für die humanistischen und naturwissenschaftlichen Fächer.
Das litauische Bildungsministerium hat sich mittlerweile für ein interessantes Finanzierungsmodell entschlossen, das 2002 eingeführt werden soll. Jeder Schüler wird einen Bildungsgutschein erhalten, sodass eine Schule je nach Anzahl der Schüler bezahlt wird. Durch diese Finanzierungsmethoden wird das Elternwahlrecht in die Tat umgesetzt, das anderorts zwar in der Verfassung gefordert, aber praktisch nicht umgesetzt wird. Für einen ausgeglichenen Schulhaushalt wären 25 Schüler pro Klasse notwendig. Die Waldorfschulen, die bisher kleine Klassen haben, müssen in dieser Situation allerdings neue Wege der Öffentlichkeitsarbeit finden, um ihr Schulangebot weiteren Kreisen zugänglich zu machen.
Schulpartnerschaften
Während der letzten Jahre wurden deutsch-litauische Schulpartnerschaften aufgebaut. Schülerinnen und Schüler in Vilnius haben Kontakte zur Waldorfschule in Esslingen, die Schule in Kazlu Ruda einen Partnerschaftsvertrag mit der Freien Waldorfschule Stade. Im Rahmen eines Sozialpraktikums haben Schüler der Waldorfschule Stade zusammen mit litauischen Waldorfschülern das Schulhaus in Kazlu Ruda angestrichen und den Boden mit einem Mosaik verziert. Sozialpraktika wie diese fördern die interkulturelle Verständigung und eröffnen neue Horizonte im fremden Land.
ALGIRDAS ALISAUSKAS
Algirdas Alisauskas
Aktive Beteiligung an der "singenden Revolution" in Litauen.1992 Schulgründung.1994/95 Studium der Waldorfpädagogik in Stuttgart.