Juwelen in einem riesigen Land
(aus: Waldorfpädagogik weltweit, S. 186-187, Copyright-Hinweise beachten!)
Obwohl die Waldorfbewegung in Kanada noch verhältnismäßig klein ist, hat sie dennoch eine große Vielfalt aufzuweisen, die sich in den geographischen und kulturellen Eigenheiten dieses riesigen Landes spiegelt. 2.500 Waldorfschüler und 250 Waldorflehrer im Jahr 2000, die sich auf das Gebiet zwischen der Atlantik- und Pazifikküste verteilen, sind ein Beweis für die Pioniersituation, in der sich die einzelnen weit voneinander entfernten Waldorfschulen befinden. In den 50er- und 60er-Jahren gab es in Kanada verschiedene Studiengruppen zum Thema Waldorfpädagogik. Kleine Kindergärten eröffneten und schlossen wieder, hinterließen aber ein breiter werdendes Interesse. Der Name Francis Edmunds aus England wird häufig erwähnt; seine Vorträge in Montreal, in der Provinz Quebec, an der Universität von Toronto in Ontario und in Vancouver an der Westküste waren für eine Reihe von Schlüsselpersonen der Waldorfbewegung in Kanada begeisternder Ausgangspunkt.
Beginn in der Provinz Ontario
In Toronto, Ontario, bildete sich eine Gruppe Interessierter um Graham Jackson. 1965 wurde ein Verein für Waldorfpädagogik sowie ein Kindergarten gegründet. Das Besondere an dieser Gründergruppe war, dass viele weder Erzieher noch Eltern waren und Pragmatismus mit Vision verbanden.1 Im September 1968 öffnete die Toronto Waldorfschule mit zwei Klassen. Die ursprünglich in der Anglikanischen Kirche untergebrachte Schule zog 1972 in ein neu gebautes Schulhaus, eines der Juwelen Nordamerikas, das sich nördlich von Toronto in einem Naturschutzgebiet befindet. Die Toronto Waldorfschule führt inzwischen vom Kindergarten (drei Gruppen) bis zur 12. Klasse.
Inspiriert und manchmal auch eingeschüchtert durch das Beispiel der Toronto Waldorfschule, bildeten sich andere Initiativgruppen in der Provinz Ontario. Dort wurden während der 80er- und 90er-Jahre sechs weitere Waldorfschulen gegründet. Um ausgebildete Waldorflehrer zu finden, die in Kanada arbeiten dürfen, richtete man an der Toronto Waldorfschule ein Lehrerseminar ein, das sich die Räumlichkeiten mit dem regionalen Bund der Waldorfschulen in Ontario teilt. Sowohl in der Provinz Ontario als auch in Quebec gibt es heilpädagogische Einrichtungen auf anthroposophischer Grundlage, die sich um Kinder und Jugendliche mit Lernschwierigkeiten kümmern.
Ein Kommen und Gehen in der Provinz Quebec
Deutsch- und englischsprachige Anthroposophen brachten den Impuls der Waldorfpädagogik zunächst in die Provinz Quebec und wurden darin von französischsprachigen Kanadiern unterstützt. Schon während der 50er-Jahre führte Madelaine Simons einen Waldorfkindergarten. 1978 wurde der Waldorfkindergarten „L’eau vive“ in Montreal eröffnet und 1980 folgte die Gründung der „Ecole Rudolf Steiner de Montréal“, die inzwischen ebenfalls eine Oberstufe aufgebaut hat.
Eine zweite Waldorfschule in Quebec wurde 1989 als „Farmschule“ gegründet, musste aber die Farm wieder verlassen und wurde in eine öffentliche Schule integriert. Darüber hinaus wird in verschiedenen öffentlichen Schulen mit Elementen der Waldorfpädagogik experimentiert. Diese Schulen nennen sich nicht Waldorfschulen, ihre Lehrer haben aber am Waldorflehrerseminar in Quebec studiert, das 1990 unter dem Dach der Waldorfschule Montreal gegründet worden war.
Es folgten weitere Waldorfschulgründungen in den Provinzen Nova Scotia, British Columbia, West Coast und Alberta, von denen einige als Wohnzimmerschulen geführt, andere in das staatliche Schulsystem integriert wurden, wieder andere schließen mussten und ein Teil den Durchbruch zur etablierten Waldorfschule geschafft hat.
Schulhoheit liegt im Verantwortungsbereich der Provinzen
Die Aufgaben, mit denen die Waldorfschulen in Kanada umgehen müssen, sind in jeder Provinz andere, obwohl der Lehrermangel ein durchgängiges Problem ist. Erziehung liegt im Verantwortungsbereich der Provinzen und entsprechend unterscheiden sich die Beziehungen zu der jeweiligen Regierung. In Quebec, Alberta und British Columbia erhalten freie Schulen staatliche Finanzierung und zwar ein Drittel bis zur Hälfte der notwendigen Betriebsmittel. Lehrerinnen und Lehrer müssen allerdings die lokale Lehrerqualifikation haben, was es hoch kompliziert macht, geeignete Lehrkräfte zu finden. In Alberta und Quebec gibt es die Möglichkeit, Waldorfschulen in das öffentliche Schulwesen zu integrieren, doch dadurch entstehen andere Zwänge, die z. B. den Lehrplan betreffen. In den übrigen Provinzen Kanadas werden Waldorfschulen vom Staat nicht unterstützt.
Eine schwierige Entwicklung stellen die zunehmenden Betriebskosten für freie Schulen dar. Seit dem Versuch, die schlecht bezahlten Waldorflehrer angemessener zu entlohnen, sind die Waldorfschulen gezwungen, Schulgebühren zu erheben, was trotz Ermäßigungen für viele Familien untragbar wurde. Fundraising muss daher in großem Maße betrieben werden, um fehlende Schulgebühren zu ersetzen.
Sorge um sinkendes Leistungsniveau
Die verschiedenen Provinzen Kanadas, ob sie nun freie Schulen staatlich unterstützen oder nicht, sind in wachsendem Maße über das sinkende Niveau der Schulbildung besorgt und führen daher Standards ein, die sowohl von staatlichen als auch von freien Schulen erfüllt werden müssen. Freie Schulen müssen beweisen, dass ihr Curriculum den von den Bildungsministerien vorgegebenen Lernzielen entspricht und oft werden Prüfungen gefordert, manchmal sogar schon ab der 3. Klasse. Die meisten Waldorfschulen behandeln Prüfungen so, dass sie Schülerinnen und Schüler sowie den Unterricht möglichst wenig beeinträchtigen. Die Toronto Waldorfschule hat sich allerdings gegen Prüfungen in der 10. Klasse zum Erwerb eines Abschlusszeugnisses gewehrt, das von der Provinz Ontario gefordert wird; sie ist dabei, eine neue Lösung auszuarbeiten.
Ein wohl gehütetes Geheimnis
Obwohl Waldorfschulen in Kanada von Regierungsvertretern und Erziehern in der Regel geschätzt werden, genießen sie in der Öffentlichkeit kein hohes Ansehen. Die Öffentlichkeit, wenn sie Waldorfschulen überhaupt kennt, bringt sie in Verbindung mit der New Age Bewegung oder mit überholten Ideen der 60er-Jahre. Ursprünglich galten Waldorfschulen als zu „weich“ und ohne Bezug zum wirklichen Leben. Daher ist es eine wichtige Aufgabe der Waldorfschulen, Waldorfpädagogik, die oft als gut gehütetes Geheimnis beschrieben wird, einer größeren Öffentlichkeit bekannt zu machen. Die geographische Isolation der einzelnen Waldorfschulen in Kanada erschwert diesen Prozess.
Gehör verschaffen
Waldorfschulen in ganz Kanada haben in den letzten Jahren vermehrt die Wichtigkeit gesehen, sich auf die Bedürfnisse der Familien einzustellen. In Thunder Bay an der nördlichen Küste des Superior Sees und 850 Meilen (1370 km) von Ontario entfernt wurde z. B. die Waldorf-Kindertagesstätte „Little Lions“ als Antwort auf die Bedürfnisse vieler arbeitender Eltern gegründet.
In den verschiedenen Regionen Kanadas wird der Unterricht häufig von den grundlegend verschiedenen und oft dramatischen geographischen Gegebenheiten bestimmt und die Geschichten für den Unterricht werden gerne aus dem Erzählschatz der Eingeborenen und der multikulturellen Tradition bereichert. Viele Eltern der neuen Generation schätzen die Waldorfpädagogik. Gut ausgebildet und mit viel Energie scheinen sie entschlossen, trotz ihres sehr beschäftigten Lebens, sich ganz für das Leben an der Schule einzusetzen und Waldorfpädagogik einen prominenten Platz in der nationalen Erziehungslandschaft zu verschaffen.
SALLY VERNON
1 Zum Initiativkreis der Waldorfpädagogik in Ontario gehörten: John und Pat Kettle, Douglas und Else Andress, Bob und Shirley Routlege, Helmut und Renate Krause und Helga und Gerhard Rudolph.
Sally Vernon
Vorsitzende des Bundes der freien Waldorfschulen in Kanada, Beratung der kanadischen Waldorfschulen im Aufbau.