Die Wurzeln reichen weit zurück
(aus: Waldorfpädagogik weltweit, S. 80-81, Copyright-Hinweise beachten!)
Die nördliche Atlantikinsel Island wurde von den Wikingern und seit dem 9. Jahrhundert von keltischen Mönchen bewohnt. Sieben Jahrhunderte unterstand sie der Herrschaft Norwegens und Dänemarks bis sie 1944 ihre Unabhängigkeit erklärte. 2001 hatte Island ungefähr 275.000 Einwohner, wovon über 100.000 im Einzugsgebiet der Hauptstadt Reykjavik im Südwesten des Landes leben. Fischfang und Tourismus sorgten bisher für einen hohen Lebensstandard, während in Zukunft die Computertechnologie ausgebaut werden soll.
Der Beginn der Waldorfpädagogik geht in Island auf die 30er-Jahre zurück. 1930 gründete Sesselja Sigmundsdóttir (1900- 1974) ein Heim für elternlose Kinder in Island, das sie Heim "Sólheimar" (Sonnenwelten) nannte. Sie hatte 1927-29 auf dem "Sonnenhof" in der Schweiz bei Dr. Ita Wegman (1876-1935) die anthroposophische Heilpädagogik und Waldorfpädagogik kennen gelernt. Bald kamen auch seelenpflegebedürftige Kinder nach Sólheimar, und Sesselja Sigmundsdóttir empfing alle mit ihrer Wärme und Fürsorge. Nach ihrem Tod hörte im Jahr 1979 die anthroposophische Arbeit in Sólheimar auf. Einige junge Menschen wurden jedoch von der Arbeit Sesselja Sigmundsdóttirs inspiriert und fuhren ins Ausland, um Waldorf- Pädagogik und Anthroposophie zu studieren.
Stadt- und Landschule in Island
1986 versuchte ein junger Isländer in Sólheimar eine Waldorfschule zu gründen, die aber nur ein Jahr bestand. Im September 1991 wurde dann von einer Gruppe mit unterschiedlichen anthroposophischen Ausbildungen die Waldorfskólinn Sólstafir gegründet, die in der Stadt Reykjavik angesiedelt ist. 1994 wurde eine weitere Waldorfschule, die Waldorfskólinn i Lækjarbotnum außerhalb Reykjaviks auf dem Land gegründet. Es gibt inzwischen auch zwei Waldorfkindergärten, die schnell gewachsen sind. Ein sehr wichtiges Ereignis fand 1995 statt: Die öffentliche Anerkennung der Waldorfschule als Grundschule durch das Bildungsministerium. 1998 haben die beiden Schulen und Kindergärten eine gemeinsame Ausstellung über Waldorfpädagogik veranstaltet. Zum Teil bestand sie aus der Ausstellung "Waldorfpädagogik" der Freunde der Erziehungskunst, zum Teil aus Schulheften, Handwerksgegenständen und Demonstrationen aus dem Physikunterricht.
Die Waldorfschulen genießen die gleichen Rechte wie andere Privatschulen in Island, 50 % der durchschnittlichen Kosten werden von den Gemeinden finanziert. Investitionskosten müssen von den Privatschulen selbst aufgebracht werden. Die Waldorfschulen sind in der Gesellschaft in gewisser Hinsicht anerkannt. Es ist deutlich zu sehen, dass die Kinder sich an den Waldorfschulen wohl fühlen. Die herrschende Meinung ist aber, dass der intellektuelle, theoretische Unterricht die Hauptsache sei. Deswegen sehen es viele zwar als positiv an, die Kinder in den ersten Schuljahren in eine Waldorfschule zu schicken, finden aber, dass künstlerische Fächer und Handwerk in den oberen Klassen zu viel Raum einnehmen.
Jahrgangsübergreifender Unterricht ist in Island weit verbreitet
Im Vergleich zur Schülerzahl anderer Länder sind isländische Schulen sehr überschaubar, außerhalb des Einzugsbereiches von Reykjavik und besonders auf dem Lande oft sogar sehr klein. So werden in etwa der Hälfte aller isländischen Grundschulen mehrere Jahrgangsstufen im gleichen Klassenzimmer von demselben Lehrer unterrichtet. Von insgesamt 200 Grundschulen hat fast die Hälfte weniger als 100 Schülerinnen und Schüler. So wundert es nicht, wenn auch die beiden Waldorfschulen Islands eine geringe Schülerzahl haben.
Die isländische Grundschule dauert zehn Jahre. Anschließend können die Schülerinnen und Schüler vier Jahre lang ein Gymnasium besuchen, wonach die Möglichkeit zum Hochschulstudium besteht.
Der Kindergarten ist ein zweites Zuhause
Der Kindergarten passt sich an die isländische Realität, d. h. die lange Arbeitszeit der Eltern an. Die meisten Kindergartenkinder werden acht Stunden täglich betreut. So ist der Kindergarten das zweite Zuhause der Kinder. Die Arbeit des Waldorfkindergartens genießt tatkräftige öffentliche Unterstützung und allgemeines Interesse.
Auch in der Waldorfschule verbringen die Kinder regelmäßig sieben bis acht Stunden täglich. Es wird versucht, ein Gleichgewicht zwischen Vor- und Nachmittagsarbeit zu schaffen und den Schulrhythmus mit den Bedürfnissen der Eltern abzustimmen. Der Unterricht beginnt um 9 Uhr morgens und endet um 15 Uhr. Um eine ausgeglichene Wochenstruktur zu erreichen, werden mittwochs Ausflüge mit Unterricht im Freien veranstaltet. Von öffentlicher Seite sind 27 Unterrichtsstunden in der Woche vorgesehen. Die Waldorfschule hat darüber hinaus ein reiches Angebot an künstlerischen Betätigungsmöglichkeiten. Isländische Schulen unterrichten neun Monate im Jahr, zwei Monate in den Sommerferien ist die Waldorfschule für Schülerinnen und Schüler offen, die an Projekten arbeiten oder unter Anleitung der Lehrer sich künstlerisch betätigen möchten.
In Island findet heute eine intensive Diskussion über Kulturpolitik statt. Im alltäglichen Schulbetrieb der isländischen Normschule nimmt der Leistungsdruck beständig zu. Kunst und Handwerk müssen den Naturwissenschaften weichen. Die intellektuelle Seite des Lernens wird überbetont, kreatives Denken, Emotionen und Körperbewusstsein der Schülerinnen und Schüler verlieren an Wichtigkeit. Waldorfpädagogik ist heute die einzige alternative Methode im isländischen Grundschulsystem. In einer Zeit, in der die Technikorientierung an den Schulen überhand nimmt, kann die ganzheitliche Ausrichtung der Waldorfpädagogik eine notwendige Ergänzung der traditionellen Vorstellungen bieten.
KERSTIN ANDERSSON UND
SNORRI TRAUTSON
Kerstin Andersson
Lehrerin für Schwedisch und Englisch.
Snorri Trautson
Klassenlehrer an der Waldorfschule Solstafir.