Spirituelle Traditionen und ultramoderner Lebensstil
(aus: Waldorfpädagogik weltweit, S. 132-133, Copyright-Hinweise beachten!)
Indien ist ein Land der Gegensätze und besitzt ein spirituelles Kulturerbe, das eine lange Tradition hat. Indien hat mehr als eine Milliarde Einwohner mit unterschiedlichster ethnischer Herkunft, Kastenzugehörigkeit und Glauben. Siebzehn Sprachen und hunderte Dialekte werden in Indien gesprochen, Hindi ist die Nationalsprache und Englisch ein häufig verwendetes Verständigungsmittel, die lingua franca. Indien ist ein säkularisiertes Land, in dem neun Religionen koexistieren. Viele Religionen und spirituelle Organisationen der Welt haben auch einen Sitz in Indien.
Das hängt mit der großen Toleranz der Inder zusammen und mit ihrer Fähigkeit, verschiedene spirituelle Konzepte und Weltansichten anzuerkennen und sich anzueignen. Die Kontraste machen sich in dem Nebeneinander von Jahrhunderte alten Traditionen und einem ultramodernen Lebensstil bemerkbar, die nach einem Ausgleich verlangen. Medizin, Landwirtschaft und Erziehung, die früher ganz von der indischen Tradition bestimmt waren, werden inzwischen vom modernen Materialismus beeinflusst. Besonders deutlich wird das in der frühkindlichen Erziehung. Zwei- und dreijährige Kinder lernen lesen, schreiben und rechnen, unter ständig zunehmendem Druck, die Examina zu schaffen, um später eine gute Stelle zu bekommen. Viele Eltern und Lehrer suchen inzwischen nach alternativen Schulmodellen, in denen die Kinder in einer spannungsfreien Atmosphäre lernen und Freude an der Schule entwickeln können. Einige haben in der Waldorfpädagogik eine Antwort gefunden.
Erste Begegnung
Im November 1961 fand auf Anregung des Jamaikaners Pilgrim ein Treffen zwischen Major Ramachandra, Schüler Mahatma Gandhis und Generalsekretär der Organisationen "Bharat Sevak Samaj" (Im Dienst der Gesellschaft Indiens), und der Anthroposophin Helen Salter in London statt. Major Ramachandra, der sich für neue Erziehungskonzepte interessierte, lernte durch diese Begegnung Waldorfpädagogik kennen. 1968 befreundete sich Major Ramachandra mit dem holländischen Waldorflehrer Dan Jan van Bemmelen, und lud ihn zu einer Vortragstournee nach Indien ein. Dan Jan van Bemmelen fuhr gemeinsam mit Christine Hebert und Walter Soesman mit dem Auto nach Indien, wo sie am 6. Januar 1969 ankamen. Die Vortragsreise führte nach New Delhi, Hyderabad, Bangalore, Madras, Kalkutta und Dehra Dun. Interesse an der modernen und gleichzeitig spirituellen Pädagogik Rudolf Steiners bekundeten vor allem Prof. Lekh Raj Ulfat und seine Frau Sadhana, die 1946 die "Nanhi Dunya" (Kleine Welt) Schule in Dehra Dun, Nordindien, gegründet hatten, in der sprechende und taubstumme Kinder gemeinsam lernen können. Prof. Lekh Raj Ulfat studierte später Waldorfpädagogik am Emerson College in Großbritannien. Die Nanhi-Dunya-Schule war lange Zeit die einzige Schule in Indien, die Elemente der Waldorfpädagogik integrierte. Sie wird seit dem Tod von Prof. Ulfat 1991 von dessen Frau und Tochter geleitet.
Verantwortung übernehmen für Waldorfpädagogik
V. P. Subbaramu und seine Frau Mani lernten die Waldorfpädagogik ebenfalls durch die Vortragsreise von Dan Jan van Bemmelen kennen. Sie gründeten zunächst das Lehrerseminar "Thakkar Bapa" in der Nähe von Bangalore und zogen später nach Shimoga, wo V. P. Subbaramu Direktor des Lehrerseminars der "Kindererziehungsgesellschaft" wurde. Auch er besuchte das Waldorflehrerseminar in Großbritannien und gründete nach seiner Rückkehr die Grundschule "Chethana", in der mit Waldorfelementen arme Kinder in ihrer Muttersprache Kannada unterrichtet werden.
Der deutsche Kunsthistoriker, Indologe und Waldorflehrer Dr. Heimo Rau, der die Goethe-Institute (in Indien: Max Mueller Bhavan Institute) in Neu Delhi und Bombay aufgebaut hat, unterstützte die Entwicklung der Waldorfpädagogik in Indien. 1973 gingen die beiden Schwestern, Aban und Dilnawaz Bana aus Bombay nach Dornach, Schweiz, um Waldorfpädagogik und Eurythmie zu studieren. Heute koordinieren die beiden Waldorfprojekte in Indien, besuchen die einzelnen Initiativen und geben während des Sommers Kurse in Waldorfpädagogik und Eurythmie. Seit 1999 leitet Aban Bana einen mehrwöchigen Kurs zur Waldorfpädagogik mit Dozenten aus Indien und dem Ausland.
1982 kam Karin Mortensen, eine norwegische Waldorflehrerin, nach Indien, heiratete den indischen Schulleiter Ranvir Kochhar in Dalhousie, Hinachal Pradesh. Zusammen gründeten sie das Himgiri-Waldorfschulinternat. Nach der Rückkehr Karin Mortensens nach Norwegen und einer Zeit der Krise versucht die Schule nun einen Neubeginn. In der Stadt Vasco da Gama in Goa gibt es einen wunderbaren Kindergarten, der von Lisa Chowgule auf ihrem großen Grundstück geleitet wird. In ihrem Kindergarten integriert sie Elemente der Waldorfpädagogik mit Methoden der Krishnamurti-Schule, einer indischen Alternativschulbewegung.
Die in den späten 60er-Jahren aufgenommenen Beziehungen zwischen Interessierten in Indien und den Niederlanden wurden 1989 durch die Gründung der "India Care Group" in Holland intensiviert. Die Freunde der Erziehungskunst organisierten 1997 eine Tournee der Ausstellung "Waldorfpädagogik", die in Neu-Delhi, Hyderabad, Bombay und Bangalore zu sehen war und von Vorträgen und Seminaren begleitet wurde. Die Ausstellung, die in der Öffentlichkeit ein positives Echo fand, hatte einen großen Einfluss auf die neuere Entwicklung der Waldorfpädagogik in Indien.
Zweite Gründungswelle
In Hyderabad setzten sich Nirmala Diaz und ihr Mann Suresh Kuppu für die Gründung einer Waldorfschule ein. Nach zweijähriger Vorbereitung öffnete 1997 die Sloka-Waldorfschule in Hyderabad ihre Tore. Im Jahr 2001 umfasste die Waldorfschule Hyderabad einige Spielgruppen, eine Kindergartengruppe und die Klassen eins bis drei mit insgesamt 170 Kindern. Viele der Lehrerinnen und Lehrer haben während ihrer Ferien Waldorfschulen in Europa besucht. Sie werden seit der Gründung von Tine Bruinsma, einer Waldorflehrerin aus Holland, ausgebildet, die die Hälfte des Jahres in Hyderabad verbringt.
In Secunderabad, der Zwillingsstadt von Hyderabad, gibt es seit dem Jahr 2000 den waldorf-inspirierten Kindergarten "Diksha". 50 Kinder in zwei Gruppen werden hier betreut. Die Kindergärtnerinnen besuchen die Lehrerbildungskurse der Sloka-Waldorfschule in Hyderabad.
In Mumbai arbeitete eine Gruppe Lehrer und Eltern seit 1996 an der Gründung einer Waldorfschule. Einer der Eltern, Patrick Brillant, der in Frankreich zum Waldorflehrer ausgebildet worden ist, übernahm die Ausbildungskurse und im Juni 2000 begann eine Kindergartengruppe und eine erste Klasse mit insgesamt 25 Kindern.
Waldorfpädagogik wird in Indien langsam bekannter. Mehr und mehr Eltern suchen nach Lernmethoden, die nicht nur den Kopf, sondern auch Herz und Hand ansprechen, und sehen die Notwendigkeit, in der Erziehung ganz von den Bedürfnissen der Kinder auszugehen.
ABAN BANA
Aban Bana
Zur Zeit Organisation der Lehrerbildung in Indien und Beratung der Waldorfinitiativen.