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Waldorfpädagogik als Insel in einer zerstörten Gesellschaft

(aus: Waldorfpädagogik weltweit, S. 120-121, Copyright-Hinweise beachten!)

Seit dem Ende der kommunistischen Herrschaft haben sich die Staaten der ehemaligen Sowjetunion auf den Weg einer gesellschaftlichen Neuorientierung begeben. Dieser Weg stand in Georgien unter ungünstigen Vorzeichen. Bürgerkriegsähnliche Machtkämpfe um die politische Führung und ethnische Konflikte in Abchasien und Südossetien, gefolgt von mehreren Jahren der Anarchie, in der bewaffnete Banden weite Teile des Landes beherrschten, führten zu einem weitgehenden Zusammenbruch der Wirtschaft, zu einer Zerstörung der Infrastruktur und zu einem Zustand der Gesetzlosigkeit, der von kleinen Machteliten zur persönlichen Bereicherung genutzt wurde, während die große Mehrheit der Bevölkerung ökonomischem und sozialem Elend ausgeliefert war.

Die Folgen für das Erziehungswesen liegen auf der Hand. Aufgrund der zerstörten Wirtschaft sind berufliche Perspektiven für Jugendliche rar. Die dringend erforderliche Reform des Erziehungswesens, die jungen Menschen die Qualifikationen ermöglicht, die sie benötigen, um in dem schwierigen gesellschaftlichen Umfeld zu bestehen, ist zwölf Jahre nach der Erlangung der Unabhängigkeit nur halbherzig begonnen. Viele qualifizierte Lehrer haben ihre Posten im Schulwesen verlassen. Die Versuche der wenigen motivierten und westlich orientierten verantwortlichen Politiker, auf nationaler Ebene wirksame Reformen des Bildungswesens durchzuführen, werden durch die Finanzierungsprobleme angesichts leerer Staatskassen, einen inflexiblen bürokratischen Apparat, unzureichend qualifiziertes und demotiviertes Verwaltungspersonal und das Fortwirken reformfeindlicher sowjetischer Einstellungen und Strukturen behindert.

Gründungsversuch in Zeiten der Sowjetunion

Diesem Umfeld waren und sind auch diejenigen Initiativen ausgesetzt, die sich auf der Grundlage eines anthroposophisch erweiterten Verständnisses des Menschen um eine Reform des Erziehungswesens und der Gesellschaft bemühen. Schon in den 80er-Jahren, als Georgien noch Teil der Sowjetunion war, gab es eine größere Zahl von Gruppen, in denen man sich mit Aspekten der Anthroposophie beschäftigte. 1986 versuchten einige Persönlichkeiten erstmals, die Erlaubnis zur Gründung einer Waldorfschule bei den sowjetischen Behörden zu erreichen. Dieser Versuch scheiterte an der Forderung, dass der Direktor der Schule Parteimitglied sein müsse. Schon 1989 besuchten elf Kinder eine Spielgruppe, die auf der Grundlage der Waldorfpädagogik geführt wurde. Aus dieser gingen die beiden Kindergartengruppen hervor, die inzwischen in die Freie Waldorfschule Tiflis integriert worden sind.

Gründung der Waldorfschule

1992/93 nahm einer der späteren Schulgründer der Freien Waldorfschule Tiflis am einjährigen Ausbildungskurs des Seminars für Waldorfpädagogik in Stuttgart teil. In dieser Zeit entstanden auch die ersten Kontakte zur Freien Waldorfschule Saarbrücken. Saarbrücken ist schon seit 1975 offizielle Partnerstadt von Tiflis. Im Umfeld der Saarbrücker Waldorfschule entstand in der Folge der "Deutsch-Georgische Freundeskreis", der sich seither unter anderem die Förderung der Schulinitiative in Tiflis zur Aufgabe machte.

1993 fand im Zentrum von Tiflis – während in Westgeorgien der Bürgerkrieg und die ethnischen Konflikte in Abchasien und Südossetien kulminierten – die erste öffentliche Tagung über Waldorfpädagogik statt. Trotz der äußeren Probleme besuchten mehr als 100 Menschen diese Veranstaltung, unter ihnen der ehemalige Oberbürgermeister von Tiflis und jetzige Botschafter in Deutschland sowie einige Mitarbeiter des Bildungsministeriums. Aus der Initiative dieser Tagung ging die Gründung einer Nachmittagsschule hervor, in der während eines Jahres zweimal wöchentlich Kinder im Alter von 6-8 Jahren in verschiedenen künstlerischen Gebieten unterrichtet wurden, während parallel mit den Eltern an Grundlagen der Waldorfpädagogik gearbeitet wurde. Die durch diese praktische gemeinsame Tätigkeit von Kindern, Eltern und Lehrern gebildete Gruppe gründete ein Jahr später, am 3. September 1994, die Freie Waldorfschule Tiflis. Für die Schule stellte die Stadtverwaltung Tiflis das Gebäude eines ehemaligen Kindergartens zur Verfügung, das mit Hilfe der Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners im Rahmen eines vom Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) geförderten Projekts renoviert und erweitert werden konnte. Die Schule wird bis heute als staatliche Schule mit vertraglich vereinbarter Autonomie in Fragen der sozialen und pädagogischen Gestaltung betrieben. Alle Klassenlehrer und einige der Fachlehrer konnten durch die Unterstützung des Seminars für Waldorfpädagogik Stuttgart eine Weiterbildung zum Waldorflehrer erhalten. Drei zukünftige Lehrer besuchen derzeit das Waldorflehrerseminar in Stuttgart.

Waldorfpädagogik im gesellschaftlichen Umfeld heute

Die pädagogischen Einrichtungen auf anthroposophischer Grundlage sind heute Inseln in einer zerstörten gesellschaftlichen Landschaft. Die überwiegende Haltung der Eltern, deren Kinder das Glück haben, eine dieser Einrichtungen zu besuchen, ist geprägt von einer tiefen Dankbarkeit. Die breitere Öffentlichkeit nimmt dagegen bisher noch wenig Notiz von ihrer Arbeit. Die staatlichen Erziehungsbehörden dulden ihre Existenz, manche ihrer Vertreter mit persönlicher Sympathie. Unverständnis über Wesen und Bedeutung der Anthroposophie erzeugen bei vielen jedoch auch negative Einstellungen von Unsicherheit bis zu offener Ablehnung. Diese Haltungen werden verstärkt durch die schroffe Ablehnung anthroposophischer Einrichtungen durch einige Vertreter der orthodoxen Kirche, die zwar heute formal vom Staat getrennt ist, aber nach wie vor bedeutenden Einfluss ausübt.

Der hoffnungsvolle Kontrast, den die waldorfpädagogischen Initiativen zu den deprimierenden Problemen des Umfeldes darstellen, wird den älteren Schülern zunehmend bewusst. Der 2. Januar heißt in der georgischen Tradition "Bedoba", das heißt "Schicksalstag". Was uns an diesem Tag widerfährt – so der Volksglaube – soll prägend für das ganze Jahr sein. Die Schüler der 8. Klasse schlugen ihrem Klassenlehrer vor, sich an diesem Tag zu einer gemeinsamen Arbeit in der Schule zu treffen, um ein gutes Zeichen für das nächste Jahr zu setzen.

Einen solchen guten Stern wünschen sich alle diejenigen, die in den waldorfpädagogischen Initiativen tätig sind, für die zukünftige Arbeit.

Heilpädagogik

Das "Tagesheim für Sozialtherapie", das mit fünf seelenpflegebedürftigen Menschen seine Arbeit begann, entstand 1990. 1992 konnte in ein neu renoviertes Gebäude eingezogen werden. Heute werden dort 35 Jugendliche und Erwachsene betreut. 1991 wurde das "Zentrum für Freie Pädagogik" gegründet, das 1994 im Rahmen einer staatlichen Schule eine heilpädagogische Klasse einrichtete. Die daraus hervorgegangene "Michaelschule" wird 2001 von 52 Kindern in neun Klassen besucht.

LEVAN KHELAIA

Levan Khelaia
Mathematiker, Direktor der deutschen Schule in Tiflis. Seit 1992 Waldorflehrer. Gründung der Waldorfschule in Tiflis.

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