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"Steht mit erhobenem Haupt"

(aus: Waldorfpädagogik weltweit, S. 90-91, Copyright-Hinweise beachten!)

Estland, das nördlichste und kleinste der drei baltischen Länder, erstreckt sich vom Finnischen bis zum Rigaer Meerbusen, von der Ostsee bis zum Peipussee. Estland hat eine lange Geschichte der Fremdherrschaft durchlitten. Bereits im 13. Jh. kam es in den Besitz des deutschen Ordens, das 17. Jh. wird bis heute die "goldene schwedische Zeit" genannt, eine Zeit, in der die Universität von Tartu gegründet wurde, 1710 wurde Estland von Peter dem Großen erobert und im 20. Jahrhundert gelangte es nach einer kurzen Phase der Unabhängigkeit zwischen den beiden Weltkriegen erneut unter russische bzw. sowjetische Herrschaft. Ein Höhepunkt im langen Streben nach Unabhängigkeit und ein Glanzpunkt für die Freiheitstradition und den Freiheitswillen dieses Volkes war 1991 das Hissen der blau-schwarz-weißen Flagge des unabhängigen Estland in der Hauptstadt Tallinn.

Mit einem Seminar über Waldorfpädagogik hat alles begonnen

Esten waren die Pioniere der Alternativpädagogik im Baltikum. Im Jahr 1989 bot das staatliche Institut für Lehrerfortbildung in Tallinn wegen des allgemeinen Interesses an Alternativpädagogik ein Seminar zum Kennenlernen der Waldorfpädagogik an, das Kollegen der Rudolf-Steiner-Schule in Tampere, Finnland, durchführten. In Folge der damals großen und turbulenten Umwälzungen in Estland waren die Menschen offen für alles Neue. Es herrschte geradezu ein Hunger nach Frischem und Wahrem, nach innerer und äußerer Neubegründung. Die Teilnehmerzahl an diesem Seminar war also verständlicherweise sehr groß. Das dort Gehörte und Erlebte hinterließ bei den Teilnehmern einen tiefen Eindruck. Die Wirkung war so nachhaltig, dass einige von ihnen den Entschluss fassten, für die eigenen Kinder eine Waldorfschule zu gründen, andere wiederum wollten unbedingt an einer solchen Schule als Lehrer unterrichten. Durch diese Kurse erhielten auch Letten und Litauer Impulse für die Waldorfpädagogik.

Etwa von 1934 bis 1940 hatte es in Tallinn bereits einen Waldorfkindergarten unter Leitung von Linda Kirusk-Kasemets gegeben, an dessen Tradition aber wegen der langen Unterbrechung nicht mehr angeknüpft werden konnte. Im Herbst 1990 begann an fünf Orten (in Tallinn, Tartu, Rakvere, Polva und Aruküla) die pädagogische Arbeit im Sinne der Waldorfpädagogik – sei es als Schule, Vorschulklasse oder Kindergarten. Die Eltern hatten nahezu keine Ahnung von Waldorfpädagogik. Sie suchten in erster Linie nach einer Alternative zur staatlichen Schule. 1990 kam auch die in Estland geborene und in Deutschland aufgewachsene Tiiu Bläsi-Käo nach Estland, zunächst für die notwendige Schulberatung und die Organisation der Sommertagungen in Tartu. Daraus wurde ein zehnjähriges Dauerengagement und die Verantwortung für das 1992 gegründete Waldorflehrerseminar in Tartu, das als Fortbildungs-institut staatlich lizenziert ist. An diesem Lehrerseminar unterrichtet auch Margus Tonnov, Mathematikprofessor an der Universität Tartu, der bereits vor der Wende eine anthroposophische Studiengruppe führte, durch die einige künftige Lehrer wie Melis Sügis und Sulev Ojab Waldorfpädagogik kennen gelernt hatten. Der Aufbau der estnischen Schulen führte zu einer kleinen aber kräftigen Schulbewegung, in der man den Stolz des unabhängig gewordenen Landes spürte, dessen Nationalhymne mit "Steht mit erhobenem Haupte" beginnt.

Kritik von Staat und Öffentlichkeit

Sechs Jahre später begannen Öffentlichkeit und Schulverwaltung, sich kritisch mit den Waldorfschulen zu beschäftigen. Die Schulbehörden führten Leistungsprüfungen durch; Behördenvertreter besuchten die einzelnen Schulen. Die Situation war für beide Seiten neu. Die Beamten hatten Lob und Tadel, aber Letzteres schien zu überwiegen und zum Diskussionsthema zu werden. Nachdem mit einiger Naivität die Broschüre einer norwegischen Waldorfschule fälschlicherweise als Lehrplan veröffentlicht worden war, wuchsen die Missverständnisse. In der Presse erschien ein langer und leider in vielen Punkten unrichtiger und insgesamt betont negativer Artikel über die Waldorfschulen, dessen Auftraggeber bekannt ist. Das hatte gravierenden Einfluss auf die Situation der Waldorfschulen; die Schülerzahlen gingen stark zurück. Diese Situation musste durch qualitativ gute Arbeit überwunden werden und so hat sich die Stimmung gegenüber den Waldorfschulen wieder normalisiert. Waldorfschüler, die nach Abschluss der Waldorfschule an staatliche Schulen wechseln, haben bewiesen, dass in den Waldorfschulen mindestens so viel wie anderswo gelernt wird.

Nach zehnjährigem Bestehen arbeitet die Waldorfschule Tartu zurzeit am Aufbau einer Oberstufe. Die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Waldorfschulen setzte schon mit der Sommertagung 1990 ein, die bis heute von den einzelnen Schulen organisiert wird. 1992 wurde dann die Vereinigung der estnischen Waldorfschulen gegründet, die auch die beiden heilpädagogischen Schulen einschließt. Die offizielle Registrierung fand erst 1997 statt, da erst zu diesem Zeitpunkt die gesetzlichen Grundlagen für die Bildung von gemeinnützigen Vereinen in Estland geschaffen waren.

Zur Schulfinanzierung

Seit Erlass des Privatschulgesetzes 1993 gelten die Waldorfschulen in Estland als Privatschulen, da sich ihr Lehrplan vom staatlichen Lehrplan unterscheidet. Die Waldorfschulen finanzieren sich aus drei Quellen: Ein staatliches so genanntes Kopfgeld pro Schüler (Voucher) für die Gehälter, ein Zuschuss der örtlichen Verwaltung (je nach Schule verschieden, da die lokalen Behörden dazu nicht verpflichtet sind) für die Betriebskosten und Lehrmittel sowie das Schulgeld der Eltern. Ein ernstes Problem ist die geringe Zahl der Schüler. Einige Schulen haben bereits Kombinationsklassen eingeführt. Die Schulen tun sich auch schwer damit, gute Lehrer zu finden, Lehrer, die sich wirklich mit der Waldorfpädagogik innerlich verbinden können. Der Aufbau der Waldorfschulen in Estland geschah zu einem großen Teil dank der Hilfe von Freunden aus dem Ausland: aus Finnland, Schweden, Deutschland und den Niederlanden.

Was wird aus den estnischen Waldorfschulen in Zukunft? Solange die Menschen, die Waldorfpädagogik für ihre Kinder suchen, und die Menschen, die als Waldorflehrer unterrichten wollen, sich finden, werden die Waldorfschulen auch weiterhin bestehen.

TIIU BLÄSI-KÄO
KATI KOLK

Tiiu Bläsi-Käo
Architektur-, Pädagogik- und Waldorfpädagogikstudium. Unterricht an der Waldorfschule Engelberg. Seit 1990 Aufbau und Leitung des Lehrerseminars in Tallinn, Estland.

Kati Kolk
Pädagogikstudium an der Universität Tallinn. Studium der Waldorfpädagogik am Lehrerseminar in Stuttgart. Klassenlehrerin in der Waldorfschule Polva.

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