Lernziele contra Unterrichtsfreiheit
(aus: Waldorfpädagogik weltweit, S. 58-59, Copyright-Hinweise beachten!)
Die Waldorfschulbewegung in Belgien hat mit dem Ende des 2. Weltkriegs begonnen. Damals trafen sich einige Anthroposophen in Antwerpen, darunter Emile Gevers, die 1948 einen Waldorfkindergarten gründeten. 1954 eröffnete die erste Waldorfschule in Antwerpen. Sie wurde 1965 offiziell anerkannt. Viel Hilfe kam ihnen damals von niederländischer und deutscher Seite: Arnold Henny, Wim Veltman, Herbert Hahn und Bernard Lievegoed hielten Vorträge vor zahlreichen Zuhörern. Die Schule wuchs und die ersten belgischen Waldorflehrer errangen einen legendären Ruf.
Nach Gründungsboom Konsolidierung
Es dauerte jedoch bis zur zweiten Hälfte der 70er-Jahre, bevor auch an anderen Orten Waldorfschulen gegründet wurden. Ausschlaggebend für die neuen Schulgründungen war der Wunsch von Eltern, für ihre Kinder Waldorfpädagogik zu ermöglichen. In verschiedenen Städten im Norden des Landes, in fast jeder Provinz (ausgenommen Limburg) und später auch in kleineren Gemeinden wurden Waldorfschulen errichtet. Im südlichen, französischsprachigen Teil von Belgien ist die erste und einzige Waldorfschule erst in den achtziger Jahren in Court St. Etienne entstanden. Nach dem explosiven Wachstum der achtziger und dem steten Wachstum der neunziger Jahre zeichnet sich im Moment eine Stabilisierung der Waldorfschulen in Bezug auf die Zahl der Schulen wie auch der Schülerinnen und Schüler ab.
Seit Beginn der achtziger Jahre werden die Steinerschulen staatlich bezuschusst. Wie die anderen meist katholischen "freien" Schulen werden die Gehälter den Lehrerinnen und Lehrern direkt vom Staat bezahlt. Bedingung hierfür sind allerdings staatliche Diplome, sodass die Schulen in ihrer Lehrerwahl nicht völlig frei sind. Material- und vor allem Infrastrukturkosten werden nur gering bezuschusst. Daher bezahlen die Eltern, abhängig von ihrem Einkommen, monatlich Beiträge als freies Schenkungsgeld.
Schulkontrolle durch Festlegung von Lernzielen
In Belgien gibt es kein zentrales Abitur, d. h. jede Schule kann Abschlusszeugnisse selbst ausstellen. Dennoch wollen die Behörden die Kontrolle über die Abschlüsse nicht aufgeben. Bis 1995 gab es staatliche Lehrpläne; die Waldorfschulen konnten ihre eigenen Lehrpläne genehmigen lassen. Seit 1997 gibt es jedoch ein neues staatliches Kontrollsystem für die Unterstufe, seit 2000 auch für die Oberstufe: die Lernziele. Sie müssen von der Mehrzahl der Schülerinnen und Schüler einer bestimmten Altersstufe erreicht werden. Diese Lernziele gelten im Prinzip für alle Schulen. Die Steinerschulen haben juristische Schritte dagegen unternommen; es ist ihnen gelungen zu beweisen, dass diese Lernziele der im Grundgesetz verankerten Unterrichtsfreiheit widersprechen. Dank eines Urteils vom 18. Dezember 1996 des belgischen Bundesverfassungsgerichtes (Arbitragehof) können die flämischen Steinerschulen eigene Lernziele benennen, die jedoch genauso wie die offiziellen Lernziele staatlich anerkannt werden müssen. Erst am 18. April 2001 ist es durch ein Gerichtsurteil des Arbitragehofs gelungen, dass auch die Waldorfschule im französischen Belgien ihre Lernziele selbst formulieren darf. Der Arbitragehof hat die Einführung der 641 staatlich vorgegebenen Lernziele für die Grundschule deshalb abgelehnt, weil sie nicht genug Platz lassen, um an einer Schule eigene Lehrmethoden zu gewährleisten.
Sprachenvielfalt auch in der Schule
In Belgien gibt es drei offizielle Landessprachen: Niederländisch (52 Prozent), Französisch (47 Prozent) und Deutsch (1 Prozent). Für den Unterricht ist es also wichtig, mehrere Fremdsprachen anzubieten. In Flandern wird mit Französisch und Englisch schon in der Unterstufe begonnen und ab der neunten oder zehnten Klasse Deutsch hinzugenommen. Im Vergleich mit anderen Lehrplänen für Waldorfschulen gibt es Unterschiede, die aus der historischen Entwicklung und den Kompromissen mit den Behörden erwachsen sind. Solche Kompromisse sind meistens kleinere Eingriffe, wie z. B. die Behandlung von elektrischen Schaltungen und binären Zahlen in der achten Klasse als Vorbereitung für den IT-Gebrauch in den höheren Klassen. Es besteht auch die Verpflichtung, ein weltanschauliches Fach zu unterrichten. Die Steinerschulen in Belgien haben nie Religion unterrichtet. Durch Verhandlungen mit den Behörden wurde erwirkt, dass statt Religion das Fach Kulturanschauung angeboten werden darf. In der Unterstufe wird in diesen Stunden Erzählstoff behandelt, während in der Oberstufe bestimmte gesellschaftliche, philosophische und religiöse Strömungen und Fragen thematisiert werden.
Waldorfschulen gegen Vereinheitlichung
Das größte Problem für die belgischen Waldorfschulen besteht in den immer strenger werdenden Vorschriften der Behörden. Es ist fast unmöglich geworden, eine neue Waldorfschule zu gründen, weil eine Zahl von mehr als 85 Kinder für die Unterstufe, 300 Jugendliche für die Oberstufe erreicht sein muss, bevor die Schule eine öffentliche Bezuschussung erhält. Auch was den Inhalt der Fächer betrifft, gibt es einen permanenten Streit um die waldorfspezifischen Lerninhalte. In den letzten Jahren hat vor allem die französischsprachige Schule im Süden Belgiens unter dem Sektenvorwurf gelitten. Die Behörden streben dort eine stärkere Vereinheitlichung der Schulen an, was die Waldorfschulen immer wieder in Bedrängnis bringt. Im Norden herrscht angesichts der Minderheiten im Moment noch eine freiere Atmosphäre. Dort haben die Steinerschulen ein gutes Image und werden positiv in der Presse erwähnt, z. B. dadurch, dass die Schulen ihre Gebäude einem großen Publikum für Ausstellungen zur Verfügung stellen, dass sie sich an Theaterwettbewerben beteiligen und Schüleraustausch organisieren. An einigen Universitäten und Hochschulen ist Interesse an Waldorfpädagogik vorhanden und Waldorflehrerinnen und -lehrer werden als Gastdozenten eingeladen.
Die Steinerschulen in Belgien sind im Moment in einer Vertiefungs- und Konsolidierungsphase. Ein professioneller Begleitdienst für Lehrerinnen und Lehrer wird eingerichtet und der Versuch unternommen, ein eigenes Lehrerbildungsinstitut zu gründen. Vor allem die letzte Frage ist sowohl gesetzlich wie strukturell ein fast unmöglicher Angang. Perspektiven bietet dagegen ein Modul für Waldorf- Pädagogik an einer Hochschule in Antwerpen, in welchem sich die Studenten des letzten Jahres zu Waldorf-Unterstufenlehrern und Kindergärtnern fortbilden können.
Zur Situation der Heilpädagogik
In Belgien begann die heilpädagogische Arbeit 1969. Die "Parcival Schule" für Sonderpädagogik entstand in Antwerpen zur gleichen Zeit wie das Iona-Institut, das Kindern mit Entwicklungsstörungen Platz bietet. Erst 1982 wurde das nächste Projekt in Angriff genommen: es war für die ersten Kinder der bestehenden Einrichtungen bestimmt, die mittlerweile zu Erwachsenen herangewachsen waren. In rascher Folge entstanden weitere Initiativen. Es ist typisch für die Situation in Belgien, dass jede dieser Initiativen mehrere Jahre lang um staatliche Anerkennung oder Unterstützung kämpfen musste. Die nach anthroposophischen Prinzipien arbeitenden Einrichtungen wurden trotz Widerstands der Regierung gegründet. In den letzten Jahren ist jedoch eine Besserung im gegenseitigen Verhältnis eingetreten und eine offenere Haltung zeichnet sich ab. Die Heilpädagogik wird als wichtige und erfolgreiche Alternative anerkannt und es wird Raum zur Erweiterung gegeben.
WERNER GOVAERTS
Werner Govaerts
Leiter der Rudolf-Steiner-Akademie in Antwerpen.