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Im Kampf um ein freies Bildungswesen

(aus: Waldorfpädagogik weltweit, S. 118-119, Copyright-Hinweise beachten!)

In Armenien ist Waldorfpädagogik bereits seit den 20er-Jahren bekannt. Der armenische Schriftsteller und große Politiker Levon Schanth hat vermutlich Vorträge von Rudolf Steiner gehört, denn in seinen pädagogischen Werken sind ganz offensichtlich Ideen der Waldorfpädagogik enthalten. Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts gab es eine Reihe armenischer Intellektueller, z. B. die bedeutenden Schriftsteller Hovhannes Toumanian, Ghazaros Aghaian und der Komponist Komitas, die in ihren pädagogischen Werken die Idee der ganzheitlichen und harmonischen Entwicklung des Menschen besonders unterstrichen haben. Ihre methodischen Vorschläge kommen der Waldorfpädagogik sehr nahe.

Freiheitliche Schulgesetzgebung nach dem 1. Weltkrieg

Diese freiheitlichen Reflexionen zur Pädagogik gingen in das Gesetz "Über die Schulverwaltung" ein, das am 11. September 1918 verabschiedet wurde und in den Jahren 1918-20 Gültigkeit hatte. Die ersten drei Paragraphen, die auch heute noch fortschrittlich sind, lauten:

§ 1 Die Schule in der Republik Armenien ist kein staatliches Monopol. Jede Gesellschafts- oder Gemeinschaftsorganisation, Gruppierung sowie einzelne Individuen haben das Recht, Schulen zu eröffnen und sie selbstständig zu führen.

§ 2 Die Unterstützung der Schulen durch den Staat ist kein Zeichen dafür, dass die Schulen dem Staat oder der Regierung gehören oder staatliche Schulen werden können.

§ 3 Die Verstaatlichung der Schule wird abgelehnt und das freie gesellschaftliche Schulwesen bevorzugt.

Nach der Sowjetisierung Armeniens Ende 1920 wurden diese freiheitlichen Bildungstraditionen völlig über Bord geworfen, und erst seit den 90er-Jahren macht die Waldorfpädagogik ihre ersten vorsichtigen Schritte in Armenien.

Von der Freien Universität Jerewan zur Waldorfschule

In den 80er-Jahren wurde das staatliche "Zentrum für ästhetische Erziehung Armeniens" gegründet und bot Theaterworkshops und künstlerische Arbeitsgruppen für Kinder verschiedenen Alters an. 1990 wurde dann das anthroposophische Zentrum für Kulturinitiativen "Schem" e. V. gegründet. "Schem" organisierte öffentliche Vorträge, einzelne Lehrgänge und Seminare, die sowohl von armenischen als auch von Gastlektoren geleitet wurden. Aus dieser Arbeit formte sich die Freie Universität Jerewan, die ihre ersten Studenten 1992 aufnahm. An der Universität unterrichteten Wissenschaftler, die in Armenien großes Ansehen genossen. Die Universität erwarb sehr schnell Autorität und zog viele Studentinnen und Studenten an. Das Studium an der Universität war kostenlos. Finanziell überlebte die Universität durch von armenischen Sponsoren zur Verfügung gestellte Mittel. Da aber die wirtschaftliche Situation des Landes immer schlechter wurde, verlor die Universität ihre Sponsoren und musste 1998 geschlossen werden. Die Freie Universität Jerewan gab den Hauptanstoß für die Eröffnung der zukünftigen Waldorfschule.

Die ersten Kontakte zu Waldorfpädagogen wurden 1986 geknüpft, als die Waldorflehrerin Angelika Weinmann und die Waldorferzieherin Regina Hoeck aus Überlingen/Bodensee in Deutschland für einen Tag Armenien besuchten. Diesem Besuch folgte das erste umfangreiche Seminar im Juni 1992. Im Laufe des folgenden Jahres gab es mehrere Blockseminare zur Waldorfpädagogik. 1994 wurde neben der Schule ein Waldorflehrerseminar eingerichtet. Außer den Seminaren und Lehrgängen, die in Jerewan organisiert wurden, erhielten eine Reihe von Studentinnen und Studenten die Möglichkeit, ihr Studium in europäischen Ländern fortzusetzen und eine gründliche Ausbildung zu bekommen. Leider brachte das Schicksal nicht alle nach Armenien zurück.

Eine eigene Wohnung für den Kindergarten

Mit Unterstützung von Regina Hoeck hat Olga Saroyan im Rahmen des staatlichen Kindergartens Nr. 204 die erste Waldorfgruppe unter der Schirmherrschaft des Zentrums "Schem" und der Abteilung für Volksbildung der Stadtverwaltung Jerewans eröffnet. Die Gruppe gewann bald einen guten Ruf im Elternkreis und bei örtlichen sowie ausländischen Fachleuten. Die Widersprüche, die regelmäßig zwischen den Waldorf- und traditionellen Flügeln auftauchten, waren jedoch unvermeidlich. Das führte 1995 zum Auszug der Gruppe aus dem Kindergarten Nr. 204; sie wurde als privater Kindergarten in einer Mietwohnung weitergeführt.

Experimentalstatus sichert Fortbestehen

Ende der 80er-Jahre versuchten einzelne an Waldorfpädagogik interessierte Lehrerinnen und Lehrer in verschiedenen Schulen der Hauptstadt für den Unterricht bestimmter Fächer Waldorfmethodik einzuführen. Die erste Waldorfklasse begann 1991 in der staatlichen Schule von Muschegh Ischchan. 1994 wurde eine zweite Waldorfklasse in der staatlichen Schule von Garegin Hovsepjan eröffnet. Im gleichen Jahr war die dritte Klasse der Schule von Muschegh Ischchan in diese Schule umgezogen. Später kam jedes Jahr eine Klasse hinzu, sodass der Waldorfflügel heute über 200 Schüler, mehr als in den traditionellen Klassen, und 26 Lehrer hat. In Wirklichkeit hat sich der Waldorfflügel in eine getrennte Schule verwandelt. Ruf und Autorität der Waldorfschule wachsen Schritt für Schritt, parallel dazu vertieft sich aber die Kluft zwischen Waldorf- und traditionellen Flügeln, was im September 1999 und 2000 dazu führte, dass der Direktor den Erstklässlern der Waldorfschule den Schuleintritt verbot. 1999 wurde diese Situation durch die Einmischung des Premierministers Armeniens und im Jahre 2000 nach dreiwöchigem Kampf durch die Einmischung des Ministers für Bildung und Wissenschaft gelöst und die Klassen wurden eröffnet. Die Behörden stehen der Waldorfschule wohlwollend gegenüber. Die Schule arbeitet effektiv mit dem "Republikanischen Zentrum für Bildungsreformen" des Ministeriums für Bildung und Wissenschaft zusammen. Durch den Beschluss des Ministers für Bildung und Wissenschaft wurde den Waldorfklassen im Jahr 2000 der Experimentalstatus verliehen, der die finanzielle Unterstützung durch den Staat bei weitgehender Wahrung der Lehrfreiheit ermöglicht. Dadurch ist der Fortbestand der Waldorfschule zunächst einmal gesichert. Ein großer Teil des Lehrplans der Waldorfschule wurde bereits vom Bildungsministerium anerkannt. Der Lehrplan entspricht den staatlichen Anforderungen, da die Nationalkultur und -folklore aufgegriffen und die Feste der Armenisch-Apostolischen Kirche gefeiert werden. Seit 2000 gibt es eine Wanderzirkusgruppe an der Schule, die an den festlichen Stadtveranstaltungen teilnimmt und schon 1998 für die Kinder der Erdbebenstadt Spitak aufgetreten ist. Die Prüfungsergebnisse der Waldorfschule sind im Vergleich zu denen anderer Schulen der Hauptstadt besser. Über die Waldorfschule Jerewan wurde mehrmals in Presse und Fernsehen berichtet.

Waldorfschule als Vorreiter für ein freies Bildungswesen

Zum Schutz der Waldorfschule treten viele berühmte Intellektuelle, Politiker, Wissenschaftler und Vertreter des Bildungsbereichs auf. Über den weltlichen Charakter der Waldorfpädagogik, ihre Rolle und Verbreitung in vielen Ländern und ihren juristischen Status haben sich die Deutsche Botschaft Jerewan und das Landesbüro des "Europäischen Forums für Freiheit im Bildungswesen" in Armenien öffentlich geäußert. Von den in den 90er-Jahren gegründeten alternativen Schulen ist die Waldorfschule die einzige, die bis heute überlebt hat. Deshalb sind ihre Errungenschaften auf dem Wege zur staatlichen und gesellschaftlichen Anerkennung von prinzipieller Bedeutung auch für die Entwicklung anderer alternativer pädagogischer Richtungen in Armenien. In Zukunft sollen die Waldorfeinrichtungen ihren festen Platz im Bildungswesen der Republik Armenien finden und zu dessen Entwicklung beitragen.

EDUARD SAROYAN

Eduard Saroyan
Abteilungsleiter der Zentralen Staatlichen Bibliothek, Redakteur. Gründung der Freien Universität Jerewan und der Waldorfschule Jerewan.

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