Der traurige Gedanke, den man tanzt
(aus: Waldorfpädagogik weltweit, S. 180-183, Copyright-Hinweise beachten!)
Argentinien, das die Form eines lang gezogenen Dreiecks hat, grenzt im Norden an Bolivien und Paraguay. Im Nordosten bildet der Rio Uruguay die Grenze zu Brasilien und Uruguay, im Osten liegen die Atlantikküste, im Westen die Anden und im Süden stößt man auf Gletscher mit antarktischer Kälte. Hier, am entlegensten Punkt des Landes, wird das spanische Wort "sur", der Süden, zum Synonym eines argentinischen Lebensgefühls tiefer Melancholie, genährt von der Sehnsucht nach absoluter Stille, Klarsicht und Wahrheit. Eine Sehnsucht, Traum und Albtraum zugleich, die in Argentiniens zeitgenössischer Literatur, in den großen Werken von Jorge Luis Borges (1899- 1986) oder Ernesto Sabato (*1911), ebenso ihren Ausdruck findet wie in der ursprünglichen Form des Tangos – dem traurigen Gedanken, den man tanzen kann.
Neue Heimat in Argentinien
Pioniere der Waldorfpädagogik kamen in den 30er-Jahren nach Argentinien, wo bereits Fred Poeppig und Franz Schneider einen Arbeitskreis zum Thema Anthroposophie leiteten.1 Einer der Pioniere, Eli Lunde aus Norwegen, war durch ihre Eltern in die Friedwartschule in Dornach, Schweiz, geschickt worden, wo sie täglich Rudolf Steiner begegnete, der sich sorglich um sie kümmerte. Da sie Lehrerin werden wollte, machte sie die nötige Ausbildung; ihre Mitarbeit an der Dornacher Friedwartschule scheiterte aber durch "einander missverstehen". In dieser Situation erhielt sie das Angebot als Erzieherin bei einer Familie, die nach Uruguay reiste, zu arbeiten. Von dort aus schaute Eli einmal bei den Anthroposophen "drüben über dem Strom", dem Rio de la Plata, vorbei und blieb.
Ein weiterer Pionier, Herbert Schulte-Kersmecke, war Architekt in Deutschland. Er erfuhr in einer Zeitungsnotiz vom 1. Januar 1923 von "der Brandvernichtung eines Tempels"2, und entschloss sich sofort, diesen Baustil und seine Grundlagen kennen zu lernen. Später hielt er in Siegen Einführungskurse in die Anthroposophie, auch nach dem Beginn des Dritten Reiches, durchaus in Konflikt mit der SA. In dieser Situation drängte es ihn in die Welt hinaus, Schwierigkeiten mit den Visa führten ihn als Ausweg nach Buenos Aires. Wenige Tage nach seiner Abreise brachen die Nazis in seine Wohnung ein, konnten aber nur die Bibliothek beschlagnahmen.
Ingeborg Knäpper, Hauswirtschaftslehrerin, kam dann als Dritte dazu und lernte die Waldorfschulmethode durch Eli Lunde kennen. Alle drei planten die Gründung eines Waldorfkindergartens und später einer Waldorfschule. Im März 1939 begann die Arbeit in einer Garage, mit Apfelkistenmöbeln und farbigen Tüchern. Später mieteten die drei Gründer gemeinsam ein Haus und begannen mit der Schule bis zur 3. Klasse. Erst ab 1956, als aus Deutschland "Waldorflehrernachwuchs" kam, ging es auf die 7-klassige Schule zu. So entwickelte sich die erste Schule Südamerikas in Buenos Aires, im Vorort Florida.
Ein organischer Schulbau entstand unter freudiger Mitarbeit des Bauunternehmers und aller Arbeiter. Von der Universität wurden Studenten geschickt, diesen Bauimpuls kennen zu lernen. Kurz vor der Fertigstellung des Baus kam es zum Streit im Kollegium und 1966 zum Bruch. Die Schule spaltete sich und die Initiatoren der ersten Stunde führten ihren Impuls im Vorort San Isidro weiter. Daraus entstand die Escuela San Miguel Arcángel, die inzwischen im Vorort Villa Adelina in einem zweiten organischen Bau untergekommen ist.
ANNEMARIE OEHRING
Vorbehalte von Erziehungsbehörden
Argentiniens Erziehungspolitik ist zentralistisch organisiert; den Behörden unterliegt also die Planung, einschließlich der Methodenwahl (wie Lese- und Schreibmethoden), die Anerkennung der Lehrbücher und vor allem die Kontrolle. Dieser Kontrolle unterliegen die Staatsschulen ebenso wie die Privatschulen, gleichgültig ob sie finanzielle Unterstützung vom Staat erhalten oder nicht. Auch dort, wo Waldorfschulen "Methoden-Erlaubnis" besitzen, treten immer wieder Kontroversen mit den Inspektoren auf, die dann mühsame Begründungsarbeiten erfordern.
Lange hegten die Behörden Bedenken gegenüber den Waldorfschulen als Sektenschulen. Auf die Anfrage hin, worauf sich ihre Bedenken stützten, kreiste die Begründung hauptsächlich um Folgendes:
• dass in den Schulen der Gebrauch von Schlüsselbegriffen und eine Wortwahl üblich sei, die nur in diesen Kreisen verständlich wäre;
• dass eine Arbeitsweise zu bemerken sei, die, bei geringer Besoldung, eine sonst nicht übliche Hingabe und Opferbereitschaft erfordere;
• dass in der Ausgestaltung der Räumlichkeiten viel Symbolhaftes, gepaart mit einer allgemein religiösen Stimmung und Devotionsatmosphäre schon allein bei einem ersten Durchgang durch die Gebäude wahrnehmbar sei.
Die Tatsache, dass die verschiedenen Konfessionen den Religionsunterricht selbst übernehmen können, besaß die nötige Überzeugungskraft, um das Sektenvorurteil dann doch abzubauen. Im Laufe der letzten 15 Jahre hat die Waldorfpädagogik durch die in den Schulen geleistete Arbeit große Anerkennung erzielt, so weit, dass zum Beispiel ein Oberinspektor äußerte, dass das, was die Waldorfschulen erreichten, den anderen Schulen entweder noch nie gelungen sei oder aber schon lange nicht mehr gelänge. Dennoch haben auch diese Art Aussagen, die immer öfter zu hören sind, den Waldorfschulen noch nicht die Möglichkeit eröffnet, frei pädagogisch tätig sein zu können.
Waldorfpädagogik und Integration
In den letzten Jahren erregt die Waldorfpädagogik in Argentinien das Interesse einer breiter werdenden Öffentlichkeit. Ein Bild davon, wie die Waldorfpädagogik im Erziehungswesen wahrgenommen wird, kann vielleicht die Auffassung zeigen, zu der man im Jahr 2000 im "Vierten Internationalen Erziehungskongress" in der Provinz Catamarca kam: die Waldorfpädagogik sei eine interessante Alternativpädagogik, letztlich aber nur in kleineren gesellschaftlichen Kreisen durchführbar. Große Anerkennung dagegen erntet die Integration von behinderten Kindern. Daraus folgt jedoch oft das Missverständnis, Waldorfschulen seien "eigentlich" Sonderschulen. In Argentinien gibt es neben den Waldorfschulen zwei heilpädagogische Heime, die "Fundacion Tobias", 1987 von der Initiatorin Liliana Menéndez und die "Asociation Educadora Ita Wegman", 1988 von Maria Julia San Martin gegründet.
Um die Pädagogik Rudolf Steiners breiter zugänglich zu machen, baut das pädagogische Seminar in Buenos Aires ein offenes übergreifendes Fernstudium auf, welches auf die Anfrage einiger Staats- und Privatschullehrer im Inland antwortet, die allmählich immer mehr zu der Überzeugung kommen, die herkömmliche Art der Erziehung stecke im Argen.
Erziehungsreform
Anfang der 90er-Jahre begann in Lateinamerika eine Welle von Erziehungsreformen; diese waren Bedingungen des Internationalen Währungsfonds (IMF), um weitere Kredite zur Tilgung von Zinsen der stark belastenden Auslandsschulden zu gewähren. 1996 erreichten diese Reformen auch Argentinien. Seither versuchen die Waldorfschulen, dieser Gesetzgebung einiges abzuringen, was der Waldorfpädagogik zumindest "neuen Atem" geben kann. Ein gravierendes Problem ist, dass nun das Einschulungsalter per Gesetz auf fünfeinhalb Jahre festgelegt wurde. In diesem Punkt haben die Waldorfschulen verschiedene, zum Teil riskante Wege eingeschlagen, um weiterhin der individuellen Entwicklung der Kinder gerecht werden zu können.
Obwohl der offizielle Lehrplan vom Staat fest vorgeschrieben ist, gibt gerade der Epochenunterricht einen Freiraum, der so geschickt wie möglich genutzt wird. Allerdings musste und muss der Epochenunterricht für die Oberstufe auch weiterhin mühsam erkämpft werden.
Waldorfschulen auch im Landesinneren
Die ersten beiden Waldorfschulen – "Rudolf Steiner" und "San Miguel Arcángel" – entstanden im Großraum Buenos Aires; ihre Elternschaft entspringt hauptsächlich der sozialen Mittelschicht (Intellektuelle, Künstler und Freischaffende). Im letzten Jahrzehnt sind weitere Initiativen – mit Trend ins Inland – gefolgt. Es besteht ein großer Unterschied zwischen den Schulen in und um die Hauptstadt (Großraum Buenos Aires), wo etwa die Hälfte der Bevölkerung des Landes lebt, und den Initiativen im Landesinneren. Für die Inlandschulen besteht weniger Kontrolle der Erziehungsbehörden und daher auch mehr Freiraum zur Lehrplan- und Unterrichtsgestaltung. Andererseits sind die finanziellen Probleme schwerwiegender: Traditionsgemäß kommt der Staat für die Schulerziehung auf. Eltern sind bereit, durch gemeinsame Aktionen Geld für einmalige Unternehmungen aufzubringen, aber meist nicht gewillt (und in der jetzigen Lage auch nicht mehr fähig) einen Betrag für Lehrergehälter beizusteuern. Die Waldorfinitiativen im Inland stehen demzufolge vor der Aufgabe, neue soziale Formen zu finden, um sich finanziell halten zu können.
Die etwas länger etablierten Großstadtschulen sind öffentlich anerkannt, bekommen jedoch keine staatlichen Zuschüsse. Die Rudolf-Steiner-Schule ist bis zur Oberstufe ausgebaut; die Schulen "San Miguel Arcángel", "Perito Moreno" und "Clara de Asís" sind auf dem Wege dahin. Die drei jüngsten Schulen bauen zurzeit ihre Unterstufe auf.
Beschäftigung mit der Kultur der Ureinwohner
In den Waldorfschulen bestand bisher das Bestreben, den europäischen Waldorflehrplan möglichst "getreu" nachzuahmen. Erst in letzter Zeit kamen Fragen auf, ob und wie diese Inhalte der doch sehr verschiedenen südamerikanischen Realität angepasst werden können. Wie kann man verstehen, dass dieser Prozess der Anpassung auf die gegebenen geographisch-klimatisch-sozialen Bedingungen erst jetzt zur akuten Frage wird? Dies ist auf den historischen Werdegang Südamerikas zurückzuführen. In Argentinien wurde die Urbevölkerung und deren Kultur durch die europäischen Eroberer praktisch ausgelöscht. Die Blickrichtung ist in den meisten Bereichen auch heute noch fast "hörig" nach Norden bzw. Europa gerichtet. Argentinien ist heutzutage so gut wie ausschließlich von Einwanderern besiedelt. Auch die jüngere Geschichte hat durch die Einwirkung aus dem Norden und die verschiedenen Diktaturen die so nötige Entwicklung der Identität erschwert.
Mit dieser Absicht hat sich eine Arbeitsgruppe mehrerer südamerikanischer Waldorflehrer (aus Peru, Chile und Argentinien) zusammengefunden, um vor allem den Geschichtslehrplan neu zu erarbeiten. Die "offizielle" Geschichte beginnt nämlich mit der Entdeckung und spanischen Kolonialisierung, das heißt also mit der Neuzeit. Die Situation vor Kolumbus und die fast vollständige Ausrottung der Urbevölkerung wird nur nebensächlich behandelt. Sogar die Namensgebung des Kontinents und des Landes ist von den Eroberern bestimmt worden.
Mehr Übersetzungen
Auch in Bezug auf die spanische Sprache stehen die argentinischen Waldorfschulen vor einem Problem. Während ihrer historischen Entwicklung waren sie darauf angewiesen, über mindestens einen deutsch-sprachigen Mitarbeiter zu verfügen, um Anschluss an den anthroposophischen Informationsfluss zu haben. Die Übersetzungen ins Spanische sowohl des Werkes Rudolf Steiners als auch der Sekundärliteratur und der aktuellen Publikationen bilden – nicht nur im pädagogischen Bereich – ein schwieriges Problem, das zu seiner Bewältigung auch von dem dafür zur Verfügung stehenden Geld abhängt. Diese Schwierigkeit stellt ein ernstes Hindernisfür den nicht deutschsprachigen Raum weltweit dar.
Wie sieht Waldorfpädagogik in der Zukunft aus?
Die Zukunft stellt die Waldorfpädagogik vor eine enorme Herausforderung: kurz-und mittelfristig ganz neue und kreative Möglichkeiten zu entwickeln angesichts der "neuen" Kinder mit auffallenden Verhaltensstörungen, aber auch besonderen Fähigkeiten, des Zerfalls der Familie im traditionellen Sinn, des Ansturms der Technik und der Folgeerscheinungen der weltweiten Globalisierung. Gleichzeitig werden die Waldorfschulen Mittel und Wege suchen müssen, um sich auch dann lebensfähig erhalten zu können, wenn schließlich die bestehende Tendenz zur Arbeitslosigkeit und zum Verlust des Mittelstandes ihr volles Ausmaß erreicht haben wird.
Zur Hoffnung berechtigt jedoch die Tatsache, dass immer häufiger Fragen an die Waldorfpädagogik gestellt werden, wie man die derzeitigen Erziehungsschwierigkeiten und die fast ausweglose allgemeine pädagogische Notsituation verstehen und angehen könne. Den Waldorfpädagogen ist es ein großes Anliegen, wann und wo immer sie können, den tiefen Respekt dem Kinde gegenüber, das Veständnis für die Entwicklungsschritte und eine neue Beleuchtung des Begriffs der Menschenwürde, der die Waldorfpädagogik beflügelt, so klar als Antwort hinüberzureichen, dass sich ein neuer Blick auf das Kind und den Erziehungsprozess ergibt.
Sollte dies gelingen, könnte sich der volkspädagogische Impuls Rudolf Steiners in Argentinien ausbreiten und das Weiterleben der Waldorfpädagogik auch dann gewährleisten, wenn die Waldorfschulen sich durch die finanzielle Not nicht mehr halten können sollten.
URSULA VALLENDOR
1 Fred Poeppig, geb. 1900 in Neustadt, Deutschland, entdeckte als Student in Weimar ein Buch Rudolf Steiners und lernte auf diese Weise Anthroposophie kennen. Sein Vater, Alfred Poeppig, war schon vor dem Ersten Weltkrieg nach Argentinien gegangen und er reiste 1920 zusammen mit seiner Mutter und Schwester nach. In Buenos Aires lernte er Francisco Schneider kennen, der kurz nach ihm als Mitarbeiter der Deutschüberseeischen Bank nach Argentinien gekommen war. Auch Francisco Schneider kannte bereits die Anthroposophie, da er in Stuttgart Vorträge von Rudolf Steiner gehört hatte, und übersetzte später viele Werke Rudolf Steiners ins Spanische.
2 Es handelt sich um das von Rudolf Steiner 1916-1923 errichtete, ganz in Holz ausgeführte, so genannte erste Goetheanum in Dornach, Schweiz.
Annemarie Oehring
Ausbildung zur Lehrerin. Waldorflehrerausbildung in Stuttgart. In Argentinien als Waldorflehrerin in der "Escuela San Miguel Arcángel".
Ursula Vallendor
Klassenlehrerin. Mitglied des Koordinationskreises des Seminario Pedagogico Waldorf in Buenos Aires. Lehrerberatung, Lehrerfort- und Weiterbildung.