15 Jahre Waldorfpädagogik in Odessa
In Osteuropa traf der Waldorfimpuls Ende der 80er Jahre vielfach auf einen ganz besonderen Enthusiasmus und See-lenreichtum. Die Schilderung von Irina Kokoshynska ist dafür ein sprechendes Zeugnis. – Ein Blick auf die Geburt und Entwicklung der Waldorfschule „Stupeni“ („Stufen“) in Odessa.
Vor ungefähr 20 Jahren hat’s begonnen.
Es war ähnlich einer violett-blauen Krokusblume, die sich den Weg durch frostigen Schnee zur Sonne schafft. Der Schnee fängt schon an, unter mehr und mehr wärmestrahlender Sonne zu tauen, aber die Blume muss sehr viel Kraft einsetzen, um zum Licht zu kommen. Sie ist alleine. Ihr ist kalt. Aber sie ist da und blüht. In ihrer Mitte leuchten Sternchen. Sie ist dem Himmel verwandt. Dies war vor 20 Jahren die Erscheinung der Waldorfpädagogik auf dem Felde sowjetisch-atheistischer Bildungspolitik der UdSSR.

Der Eiserne Vorhang fiel... Und aus Westeuropa kamen erfahrene Waldorflehrer mit flammender Begeisterung die Samen der freien Waldorfpädagogik in die Seelen nach wahrer Pädagogik dürstender Menschen zu pflanzen. So war das ... in Moskau, Sankt-Petersburg, Kiew, Alma-Ata, Tiflis, Odessa.
Ja, Odessa... In Odessa war alles - wie immer - rasch, lebendig und durcheinander. Aber fröhlich! In einem traditionellen Kinderbeschäftigungshaus hatten Vorträge von finnischen Waldorfpädagogen stattgefunden. Daraufhin bildete sich eine enthusiastische Gruppe und entschloss sich, eine Schule zu gründen. Was haben wir? Keine Kinder, keinen Raum, kein Geld, keine Erlaubnis, aber ideentreuen Enthusiasmus. Das war genug.
Vor 15 Jahren entstand in Odessa die Waldorfschule „Stupeni“ („Stufen“). An die Gründungsjahre erinnert man sich sehr gerne. Alles war schwer, von der Stimmung des Staates über die Raumsanierung bis zu ersten pädagogischen Versuchen, ständiger Mangel an Zeit, schlaflose Nächte. Trotzdem fühlte man sich auf Flügeln getragen. Alles wurde erlöst und geschaffen. Die Kinder waren glücklich. Die Eltern zufrieden. Die Menschen bildeten eine wahre Gemeinschaft, freie brüderliche Gemeinschaft.
Danach kam der Rhythmus der Jahre. Das neue Gebäude wurde mit Hilfe von vielen, vielen lieben Freunden und Stiftungen im Ausland gekauft. Alles bekam langsam Wurzeln. Die Empfindung der Flügel verwandelte sich in die Empfindung langsamer, sicherer Fortbewegung.
Am Platze und an der Zeit sind nun Fragen: Was ist das Schulkollegiumswesen? Welche Funktionen hat an der Waldorfschule der Schuldirektor? Und was ist mit dem Geldwesen? Diese Fragen sind nicht schnell zu lösen. Aber das gehört zum Leben.
Zur Zeit haben wir drei Kindergartengruppen, 11 Schulklassen und drei heilpädagogischen Klassen – letztere entstanden, weil einfach Kindern mit Bedürfnissen kamen und Hilfe brauchten...
Das Schulschiff bewegt sich sicher im Ozean des Lebens fort. Fragen nach den Fähigkeiten der Pädagogen und tiefgründige Betrachtungen des Kindeswesens sind unser heutiger roter Faden.
Wir versuchen, freundlich und offen mit staatlichen Bildungsvertretern ins Gespräch zu kommen, die Grundlinien der Waldorfpädagogik im Konkreten zu zeigen. In diesem Jahr hatten wir außerdem Gespräche am runden Tisch mit Pädagogen, die Elemente der Waldorfpädagogik in ihrer Arbeit verwenden. Wir hoffen auf engeren Kontakt mit Schulbehörden und Ausbildungsstätten, um langsam den Blickwinkel auf die wachsende Wesenheit des Kindes zu verändern.
Unsere Kinder müssen teilweise staatlichen Lehrplan „verdauen“, um staatliche Prüfungen (nach der 9. und 11. Klasse) ablegen zu können. Diesen Kompromiss mit dem Staat sind wir eingegangen.
Die Eltern sind unsere Stütze, zweite Stütze. Ohne ihr Vertrauen in die konkreten Pädagogen und das, was die Waldorfpädagogik als Erziehungs- und Entwicklungsimpuls darbietet, würde keine Stupeni-Schule existieren. Erste Stütze sind die Kinder. Die in der Klasse auf dich warten. Für die Kinder ist alles gedacht und getan. Sie sind unsere Zukunft, die in der Gegenwart mit großen Augen die Welt durch die Seele des Pädagogen in sich aufnimmt.
Irina Kokoshynska