Bedingungen und Perspektiven in Russland
Die Waldorfbewegung in Russland stand in den letzten Jahren großen Herausforderungen und Veränderungen gegenüber. Ein Waldorf-Rahmenlehrplan wurde vom Bildungsministerium genehmigt. Der Tod Anatolij Pinskijs ist für die Waldorfbewegung ein riesiger Verlust. Der Wegfall der Finanzierung für Privatschulen und eine geänderte Finanzierung staatlicher Schulen bilden weitere große Probleme. Gewisse Hoffnung macht die Überarbeitung der Bildungsstandards, die ab 2009 die Kompetenzentwicklung stärker betonen werden.
Ganz wichtig für die Waldorfbewegung in Russland ist die erfolgreiche Vollendung der dreijährigen Zusammenarbeit an eigenen Rahmenlehrplänen – ein gemeinsames Projekt der Assoziation der Waldorfschulen Russlands, der IAO und des Moskauer Zentrums für Waldorfpädagogik. Für alle Fächer gab es Arbeitsgruppen aus erfahrenen Lehrern und ausländischen Beratern. Die Aufgabe, sowohl den Prinzipien der Waldorfpädagogik, als auch allen Forderungen des Nationalen Bildungsstandards gerecht zu werden, war keine leichte und erforderte schöpferisches Herangehen und Kompromissbereitschaft.

Besondere Schwierigkeiten brachten die „überfüllten“ Schuljahre 8 und 9 und das Fehlen des 12. Schuljahres (FUSSNOTE: 18 Jahre ist das Einberufungsalter für den Militärdienst. Die Schüler haben nach der 11. Klasse zwei Prüfungen für das Reifezeugnis und die Immatrikulation an der ausgewählten Hochschule. Jeder Schüler muss sehr spezifische Anforderungen verschiedener Hochschulen beherrschen, hauptsächlich mithilfe von privaten Nachhilfestunden oder Vorbereitungslehrgängen an jeder Hochschule außerhalb der Schulzeit). Günstig war die Tatsache, dass der Nationale Bildungsstandard den Stoff nicht auf Jahrgänge, sondern Bildungsstufen verteilt: Grundschule (Klassen 1-4), Hauptschule (5-9) oder erweiterte Mittelschule (10-11). Gerade das hat die Verwirklichung des Waldorfansatzes im Großen und Ganzen ermöglicht.
Dann begann die Abstimmung in den staatlichen Institutionen. Laut Gesetz werden die Lehrpläne jetzt durch die lokalen Bildungsbehörden bestätigt. Das macht die Schulen von der lokalen Bürokratie abhängig, die die Bestätigung selbst dann verweigern kann, wenn die Lehrpläne bereits zuvor begutachtet worden waren. In Moskau ist es der Schule Nr. 1060 dank ihres guten Rufes gelungen, die Lehrpläne vom Institut für Lehrerfortbildung bestätigen zu lassen, so dass sie jetzt auch von den anderen Moskauer Waldorfschulen benutzt werden können.
Danach wurden die Rahmenlehrpläne auch von der Russischen Akademie der Bildung begutachtet und erhielten am 23. März 2006 ein positives, empfehlendes Gutachten: Es bescheinigte ihnen u.a. „innovatives Potential, sie versuchen, eine Reihe bedeutender Aufgaben für die Entwicklung der allgemeinbildenden Schule von heute zu lösen: der kommunikative Ansatz im Fremdsprachenlernen in der Grundschule; die Verstärkung des Experimentierens und des Praktikums im naturwissenschaftlichen Lernen; die Humanisierung des pädagogischen Prozesses; das Lernen ohne Noten in der Grundschule usw.“ – Das Gutachten wurde Ende 2006 mit einem Sonderbrief des Bildungsministeriums mit der Notiz „Für die Verwendung in der Arbeit“ in alle Regionen geschickt.
Die Bedeutung der geleisteten Arbeit ist groß. Die Lehrpläne werden den Lehrern bei ihrer Arbeit helfen, weil sie Orientierungspunkte bei der Stundenplanung geben und gesammelte Erfahrung speichern. Sie können in Verbindung mit dem Gutachten und dem Brief des Ministeriums vor der Willkür der Bürokratie schützen, wenn zur Attestierung alle fünf Jahre erneut die Übereinstimmung mit dem Nationalen Bildungsstandard und dem grundlegenden Föderalstundenplan (Fächer-Verteilung nach Stunden) nachgewiesen werden muss.
Eine weitere Aufgabe ist die Erarbeitung der methodischen Materialien, die die Lehrpläne mit konkretem Inhalt füllen könnten. Der Bedarf ist sehr groß: Die Erfahrung wird immer noch mündlich ausgetauscht, die Zahl der Publikationen deckt weniger als 20% der Lehrinhalte.
Gravierende Umbrüche
Die wichtigste Rolle für die Entwicklung der Waldorfpädagogik spielte seit den Anfängen die bildungspolitische Tätigkeit des 2006 verstorbenen Anatolij Pinskij (Leiter der Moskauer Waldorfschule und des Moskauer Zentrums für Waldorfpädagogik). Sein scharfer Verstand, einflussreiche Beziehungen in den Kreisen der Bildungselite, seine organisatorischen Begabungen waren wesentliche Voraussetzungen für die Gründung und Arbeit des Moskauer Waldorflehrerseminars, eine sehr produktive Herausgabe waldorfpädagogischer Literatur, Publikationen in Massenmedien, die Arbeit der grössten russischen Waldorfschule, für das Periodische Seminar, die Ausarbeitung und Bestätigung der Lehrpläne und vieles andere. Der erwähnte Sonderbrief des Ministeriums war Pinskijs letzter Beitrag für die russischen Waldorfschulen. Sein plötzlicher Tod im Dezember 2006 ist ein großer Verlust.
Ein anderer wichtiger Faktor ist die Einstellung der aktiven Tätigkeit des Moskauer Zentrums für Waldorfpädagogik mit dem Ende des Lehrplan-Projektes (2006), dem Abschluss der Verlagstätigkeit (2006) und der Einstellung der Arbeit des Lehrerseminars (2007). Das Moskauer Zentrum war auf aktive Kommunikation mit der Öffentlichkeit und der Pädagogischen Bewegung in Russland ausgerichtet und hatte eine Schlüsselstellung bei der allgemeinen Verbreitung der Ideen der Waldorfpädagogik im russischen Kulturleben.
Nachfolger des Zentrums ist jetzt de facto die Moskauer Waldorfschule Nr. 1060, aber ihr mangeln entsprechende Fachleute, um die Rolle des Organisators und aktiven Moderators gemeinsamer Projekte zu spielen. Immerhin aber kann sie Erfahrungen verbreiten (Publikationen und TV-Sendungen, Fortbildungskurse, Teilnahme an Konferenzen), als Vorbild für Beamte dienen (die Schule gewann im nationalen Wettbewerb „Die Bildung“ und im Regionalprojekt „Die Schule der Zukunft“) und zwischenschulische Projekte initiieren (Vergleich der Bildungsqualität an verschiedenen Waldorfschulen, in Zusammenarbeit mit dem Staatlichen Forschungsinstitut).
Die Situation des Bildungswesens
2004 wurde die Leitung des Bildungsministeriums abgelöst, was zum Abbau der eingeleiteten Reformen führte (zum Beispiel des Versuchs zur Einführung des 12-jährigen Schulsystems). Des weiteren wurde zum 1.1.2006 das Bildungsgesetz geändert, das in vielen Punkten sehr demokratisch war, weil es Ende der 90er Jahre im Geiste der demokratischen Umwandlungen erlassen wurde. Nun wurde die finanzielle Unterstützung der nicht-staatlichen Schulen gestrichen (die lokalen Behörden können eine normative pro-Kopf-Finanzierung geben).
Dabei sind die Bildungsgesetze im Ganzen noch ziemlich günstig: Jeder Lehrer darf frei Lehrpläne wählen und sogar schaffen, wenn er die Entsprechung zum Nationalen Bildungsstandard bestätigen lässt. Das zweite Regelungsdokument ist der grundlegende Föderalstundenplan. Hier gibt es ein wenig Freiheit, aber die Stundenzahl für Kunst und Handwerk ist sehr gering und die Höchstzahl der Stunden pro Woche streng begrenzt.
Die russische Öffentlichkeit bleibt im wesentlichen passiv gegenüber den Bildungsproblemen. Nur die formelle Seite ruft Interesse hervor: Die Vorbereitung für die Hochschule, aber nicht die Qualität. Die schlechten PISA-Ergebnisse in Russland werden verschwiegen und falsch interpretiert. Ernste Schritte zur wirklichen Verbesserung des Bildungssystems sind nicht sichtbar. Nach wie vor wird die Vorstellung der „besten Bildung der Welt“ kultiviert – als Beweis führt man Leistungen in den internationalen Olympiaden an, die aber durch eine kleine Zahl von Eliteschulen mit erweitertem Unterricht erreicht werden.
In den Augen der Öffentlichkeit gehören zu einer guten Schule gute Leistungen und eine sichere Vorbereitung für die Hochschule bzw. der garantierte Hochschuleintritt, unabhängig von den Fähigkeiten eines Kindes. Diesen Anforderungen können viele Waldorfschulen nicht entsprechen, deswegen geht die Zahl der Waldorfschüler allmählich zurück (in den Jahren 2000-2006 um mehr als ein Viertel).
Veränderungen und Tendenzen
Ein weiterer wesentlicher Faktor für die staatlichen Waldorfschulen (ein Drittel) ist die Einführung der von der Schülerzahl abhängigen „normativen Finanzierung“. Das verschlimmert die finanzielle Situation, weil hier mit mindestens zweizügigen Schulen gerechnet wurde.
Neu für die russische Bildungspolitik war 2006 die Einführung der zweckgebundenen Finanzierung der besten Lehrer, Schulen und Regionen im Rahmen des Nationalprojektes „Die Bildung“: Lehrer und Schulen legen ihre Bildungsprogramme vor, und die Sieger bekommen Geldpreise: Ein Lehrer 100.000 Rubel bzw. rund 2.850 Euro (etwa der Jahreslohn!), eine Schule 1.000.000 Rubel. Die Moskauer Waldorfschule gewann diesen Wettbewerb im letzten Jahr u.a. wegen guter Ausbildungsergebnisse, neuer Methoden (Projekte, Individualisierung, Computer) und der Elternbeteiligung in der Schulverwaltung. Da ein solcher Sieg das Ansehen steigert, kann die Teilnahme von großer Bedeutung sein.
Aussichtsreich für die Waldorfschulen ist auch der in Arbeit befindliche neue Bildungsstandards, der gegenüber den Kenntnissen die Kompetenzen betonen wird. Dieser Standard muss im Jahre 2009 bestätigt werden.
Grundtendenzen der russischen Politik, Wirtschaft und Kultur, die auch die Schule betreffen, sind die Zunahme der zentralistischen Tendenzen und der staatlichen Kontrolle (sowie die Verbesserung der ökonomischen Lage, verbunden mit wachsender Polarisation: reich – arm, Moskau – andere Regionen). Der Faktor Kontrolle ist von sehr großer Bedeutung, weil der Lernstand der Schüler genauer erhoben wird. Der Waldorflehrer muss also gleichzeitig den Bildungsstandard beherrschen und die Fähigkeiten der Kinder fördern.
Nach wie vor erkennt der Staat die Waldorfpädagogik nicht an, bis jetzt gibt es keinerlei Abkommen zur Rechtsstellung der Waldorfschulen. Die Waldorfpädagogik wird nur in jenem Sonderbrief des Bildungsministeriums erwähnt. Das Verhalten der Beamten gegenüber den Waldorfschulen ist eher negativ als positiv – bestenfalls hält man sie für Schulen für kranke oder „nichtstandardgerechte“ Kinder (Sonderschulen).
Fazit
Als Fazit muss man die bildungspolitische Situation im ganzen als sehr schwierig einschätzen. Dabei ist die Eigenart der Waldorfschulen, ihre Arbeit an Kompetenzen (positives Schulklima, individuelle Behandlung, Fremdsprachen von der 1. Klasse, Kunst und Handwerk, Projekte und Praktika, schulische Selbstverwaltung, Schutz und Pflege der Gesundheit usw.) aussichtsreich für das öffentliche Interesse, wie das positive Bild der zwei großen Schulen in Moskau und Samara zeigt.
Wahrscheinlich haben die Waldorfschulen in Zukunft mehr Chancen, wenn sie lokal handeln und nicht auf föderalistisch-staatlicher Ebene. Eine obligatorische Bedingung für die Zukunft der Waldorfpädagogik ist die Offenheit der Schulen, d.h. ihre Bereitschaft und ihr Wunsch, Kontakte zur Außenwelt aufzubauen. Dazu gehören vor allem die Beziehungen zur örtlichen Verwaltung, die durch aktive Teilnahme an zwischenschulischen Projekten und Wettbewerben aufgebaut werden. Auch der neue Bildungsstandard wird es ab 2009 ermöglichen, ihre Eigenart noch besser zu realisieren. Das alles gibt den Waldorfschulen Chancen, die man nicht verpassen darf.
Sergej Lowjagin