Die Moskauer Waldorfschule
Die Waldorfschule Moskau ist mit über 300 Schülern die größte russische Waldorfschule. Ihren guten Ruf erwarb sie sich vor allem durch das fruchtbare und erfolgreiche Wirken ihres langjährigen, Ende 2006 leider allzu früh verstorbenen Leiters Anatolij Pinskij. Sein Nachfolger Michael Slutsch wirft einen Blick zurück und schildert, wie die Schule sich heute den Herausforderungen stellt.
Die Moskauer Waldorfschule (Schule Nr. 1060) befindet sich im Zentrum der Stadt in einem fünfstöckigen Gebäude, umgeben von einem kleinen, aber recht gemütlichen Grundstück. Etwas über 300 Schüler besuchen die Waldorfschule heute in den Klassen 1 bis 12. Wegen der großen Anzahl der Anmeldungen für die erste Klasse des Jahrganges 2007/08 haben wir uns entschieden, zwei erste Klassen zu eröffnen, obwohl die vorhandenen Räumlichkeiten das kaum erlauben.

Im Jahr 2000 beendete der erste Jahrgang die 11. Klasse – und bis heute hatten wir acht Abschlußprüfungen. Nach dem Schulabschluß entscheiden sich die meisten Schüler für ein Studium an verschiedenen Hochschulen Moskaus. Mehrere haben ihre Ausbildung bereits beendet und sind in verschiedenen Bereichen tätig (Wirtschaft, Heilpädagogik, Kunst usw.)
Blick auf die Schulgeschichte
Die eigentliche Geschichte der Schule nimmt ihren Anfang im Jahr 1989, als der Kinderpädagogische Klub "Aristotel" seine Arbeit begann. Schon davor, als es noch keinen geeigneten Raum gab, traf sich eine kleine Gruppe von Menschen, die sich für Anthroposophie interessierten, in verschiedenen Wohnungen. An einem Abend des Jahres 1988, nach einem Vortrag von Herrn Oltmann, dem Leiter des Kieler Lehrerseminars, traf sich der Autor dieses Beitrags erstmals mit dem zukünftigen Mitbegründer und Lehrer der Moskauer Waldorfschule, Anatolij Pinski. Etwas später, zu Hause bei Anatolij während des Besuches von Ernst Michael Kranich und Walter Liebendörfer, entstand die Idee der Gründung des ersten Klassenlehrerseminars in Russland.
Die ungeheure Lebenskraft und der rege Impuls, die von der Waldorfpädagogik ausgingen, führten dazu, dass 25 erwachsene Menschen sich bereit erklärten, zwei Jahre lang das Seminar zu besuchen, um sich als Klassenlehrer auszubilden. Diese Menschen - viele von ihnen waren keine Lehrer - haben für zwei Jahre ihre Berufstätigkeit aufgegeben, um fünfmal in der Woche ganztags Vorlesungen und praktischen Unterricht in der Eurythmie, Kunst, Musik, Sprachgestaltung u.a. zu besuchen. Einige von ihnen gründeten später erste Waldorfschulen in verschiedenen Städten Russlands.
Gleichzeitig mit der Lehrerausbildung begann die pädagogische Arbeit mit den ersten Kindern im Klub "Aristotel". Die Kindergruppen im Klub verwandelten sich in die ersten Schulklassen.
Nachdem die ersten Versuche, geeignete Räumlichkeiten für die Schule zu finden, gescheitert waren, fanden wir endlich das zukünftige Schulgebäude - damals beinah eine Ruine - im Stremyannij Pereulok. Dank der großzügigen u.a. auch finanziellen Hilfe, die wieder aus Deutschland kam (hier sind vor allem mit Dankbarkeit der damalige Vorsitzende des Bundes der Freien Waldorfschulen Günter Altehage und die Vorstandsmitglieder der "Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners" Nana Göbel und Bernd Ruf zu erwähnen), und der tätigen Hilfe der Behörden konnten wir die Rekonstruktion des halbzerstörten Gebäudes kurzfristig beenden. Eltern und frischgebackene Waldorflehrer strichen eifrig die Wände, putzten die Fenster, bereiteten die Klassenräume zum Schulbeginn vor. Am 1. September 1992 empfing die Schule ihre ersten Schüler.
Von der Privat- zur Staatsschule
Im Laufe der ersten Jahre funktionierte die Moskauer Waldorfschule als eine nichtstaatliche Privatschule. 1996 wurden wir zu einer Staatsschule. Dieser Wandel vollzog sich in einer neuen wirtschaftlichen Situation im Land. Es ging ums Überleben. Die drastische und unaufhaltsame Erhöhung der Mietkosten für ein Gebäude im Zentrum der Stadt und wachsende Kommunalabgaben waren ohne eine Erhöhung der Elternbeiträge nicht mehr tragbar. Die weitere Erhaltung der Unabhängigkeit vom Staat hätte eine derartige Erhöhung der Elternbeiträge bedeutet, dass die Schule zu einer elitären Schule für reiche Familien geworden wäre.
Als staatliche Schule erhalten wir nun seit über 10 Jahren eine vollständige Finanzierung, einschließlich der Unterhalts- und Renovierungskosten.
Im Laufe der Umregistrierung gelang es der Schule vor allem dank des Bemühens des ersten Schuldirektors Anatolij Pinskij, ihre pädagogische Eigenart zu bewahren, ihre Traditionen zu erhalten – und die Möglichkeit, ungehindert waldorfpädagogische Ansätze zu realisieren. Wir haben einen eigenen Unterrichtsplan mit einer waldorfpädagogischen Grundlage erarbeitet, der von russischen Bildungsbehörden geprüft und anerkannt wurde (u.a. auch der Epochenunterricht). Wir konnten auch ziemlich frei den künstlerischen und musikalischen Unterrichtsbereich entwickeln und den Eurythmieunterricht in allen Klassen durchsetzen.
Von Anfang an hatte die Moskauer Waldorfschule einen Kurs der Offenheit, Kommunikation und Zusammenarbeit mit der Moskauer Bildungsgemeinschaft eingeschlagen. Wir sind sicher, dass nur auf diesem Weg die Waldorfpädagogik in Russland eine Entwicklungsperspektive hat. Heute ist die Moskauer Waldorfschule in den Bildungskreisen anerkannt und dank ihrer pädagogischen Eigenart zu einem festen Bestandteil der Moskauer Schullandschaft geworden.
Erfolge und das Spezifische der Schule
Unsere Schule beteiligt sich auch mit Erfolg an angesehenen Schulwettbewerben. Das innovative Potential einer Waldorfschule ermöglichte uns eine erfolgreiche Teilnahme am Wettbewerb "Wir bauen eine Schule der Zukunft" und eine Beteiligung an einem Bildungsprojekt zur Weiterentwicklung des Moskauer Bildungswesens. Zusammen mit anderen Schulen sind wir an der Erarbeitung von qualitativen Bewertungsmethoden der Schultätigkeit beschäftigt ("Das Portfolio der Schule").
Seit einigen Jahren wird unsere Schule im Rahmen der internationalen Testverfahrens PISA und TIMMS von einer Gruppe unabhängiger Experten getestet. Die Ergebnisse unserer Schüler sind dabei - vor allem in Mathematik - viel höher als die von Schülern der staatlichen Schulen.
Das Kollegium der Moskauer Schule bemüht sich, die Ausbildung der Schüler an moderne Bedingungen anzupassen, ohne dabei die Prinzipien einer Waldorfschule aufzugeben. Die wesentlichen Aspekte unseres Schulkonzepts sind:
- Der praxisorientierte Unterricht. Unsere Kinder wachsen in einer Großstadt auf, wo sie selten an das Handwerkliche herankommen. Der praktische Unterricht ist ein wesentlicher Bestandteil unserer Arbeit, vom Handarbeitsunterricht über die praktischen Epochen in der 3. Klasse, das Handwerk mit Holz und Kupfer bis zu den handwerklichen Jahresabschlüssen der Oberstufenschüler. Der Aufbau des Werkunterrichts ist für uns keine leichte Aufgabe, denn er erfordert viel Mittel und Einsatz.
- Der musikalische Aspekt. Außer durch den Musiklehrer werden unsere Schüler auch von anderen Musikpädagogen unterrichtet. Dieser Unterricht findet am Nachmittag statt und erfasst eine breite Palette des Musizierens: Teilnahme am schulischen Musiktheater, Klassenorchester, verschiedene Ensembles (z.B. das Guslispieler-Ensemble) und nicht zuletzt der private Musikunterricht, den fast die Hälfte unserer Schüler bekommt. In der Oberstufe gibt es gemeinsame Chorstunden und Epochen zur Weltmusikkultur.
- Das Theater. Die Bühnenarbeit hat sich in unserer Schule zu einer Tradition entwickelt. Jede Klasse zeigt am Ende des Schuljahres ein großes Klassenspiel, meistens zum Jahresthema der Klasse, und ein kleineres Spiel in der Fremdsprache. Hinzu kommen noch die Aufführungen des Musiktheaters. Eine neue positive Erfahrung sind gemeinsame Klassenspiele mit deutschen Schülern, die im Rahmen des Schüleraustausches eingeübt und aufgeführt wurden.
- Der differenzierte Unterricht (Wahlfachstunden). Ab der 8. Klasse wählen die Schüler nach ihrem Interesse eine sogenannte Projektgruppe (vier Stunden pro Woche und ein Projekt pro Halbjahr). Ab der 9. Klasse wählen die Schüler aufgrund ihres Interesses und ihrer Leistung sogenannte "Profilgruppen" in zwei bis drei Fächern aus, in denen sie erweiterten Unterricht (6-9 Stunden pro Woche) erhalten.
- Klassenfahrten und Praktika. In der 3. Klasse realisieren die Schüler ihre ersten praktischen Kleinprojekte im Feld- und Hausbau. Ab der 4. Klasse finden Klassenfahrten statt, die oft auch an das praktische Tun anknüpfen. In der Oberstufe machen die Schüler durch die mehrwöchigen Praktika (Landbau-, Feldmess-, Sozial-, Fremdsprachen-Praktikum) lebensnahe Erfahrungen in vielen Bereichen.
Fragen und Probleme
Die Entwicklung der Waldorfpädagogik hat in Russland ein neues Stadium erreicht. Das quantitative Wachstum hat sich verlangsamt; mehrere Waldorfschulen wurden geschlossen. Die finanziellen und rechtlichen Rahmenbedingungen für das Bestehen nichttraditioneller pädagogischer Einrichtungen haben sich enorm erschwert. Im Großen und Ganzen ist die "Ära der Waldorfeuphorie" vorbei.
Und trotzdem bleibt das Interesse an innovativen Prinzipien des Waldorfkonzepts wach, was u.a. erfolgreiche Ergebnisse unserer Schultätigkeit bezeugen. In dieser neuen Situation ist es für die Schule wichtig, innere Kräfte zu mobilisieren, aber auch Brücken zu schlagen zu dem Guten und Perspektivreichen, das im Bildungsumfeld passiert. Hier stehen wir vor einer Reihe schwieriger Fragen und Probleme.
Weiterhin ungelöst bleibt das Problem der Waldorflehrerausbildung. Seit mehreren Jahren gibt es bei uns im Schulgebäude das Lehrerseminar des "Moskauer Waldorfzentrums". Ehemalige Studenten des Seminars bilden heute den Kern unseres Lehrerkollegiums. Andererseits haben einige unserer Kollegen keine Waldorfausbildung. Wir geben uns Mühe, Möglichkeiten für ihre Weiterbildung zu finden. Dabei geht es ja nicht bloß um das Vermitteln von Erfahrung und theoretischem Wissen, sondern vielmehr um Bildung neuer, u.a. auch künstlerischer Fähigkeiten, um die ganzheitliche innere Umgestaltung.
Im Vergleich zu anderen Schulen Moskaus sind wir eine ziemlich kleine pädagogische Einrichtung mit einem noch niedrigeren Lehrergehalt. Deshalb fällt es uns schwer, gute neue Lehrkräfte einzustellen und sie auf längere Zeit zu behalten.
In Russland ist heute reale Erfahrung gefragt. Im Land gibt es viele interessante Schulen mit eigenen pädagogischen Konzepten, die über solches praktisches Wissen verfügen. Unsere Schule zieht einen breiten Kreis von Eltern an, die ihre Kinder in Freiheit erziehen wollen, die ihren Kindern eine reale Welt zugänglich machen wollen und nicht bloß ein virtuelles Abbild von ihr. Wir verstehen, wie wichtig es ist, mit dem sozialen Umfeld zu kommunizieren, die besten Seiten einer Waldorfschule zeigen zu können. Diese Aufgabenstellung hat uns dazu bewegt, unsere eigene pädagogische Erfahrung Schritt für Schritt zu systematisieren. Wir sind auch bereit, unser Wissen an interessierte Lehrer, Eltern und mögliche soziale Partner weiterzugeben.
Am Ende noch etwas ganz Wichtiges. In den ersten Jahren unserer Schulbiographie passierte alles "zum ersten Male". Viele Initiativen entstanden spontan und aufgrund persönlicher Kontakte unserer Lehrer, und vor allem unserer deutschen Kollegin Ute Konovalenko. In der heutigen Situation ist die weitere erfolgreiche Entwicklung der Moskauer Waldorfschule ohne langfristige Partnerschaften mit erfahrenen Waldorfschulen kaum zu denken. Gerne bieten wir Schüleraustausch-Programme verschiedener Art, Möglichkeiten für gemeinsame Schülerpraktika (Sozialpraktikum und Fremdsprachpraktikum in Russland, Theater- und Musikprojekte) und auch Hilfe in der Weiterbildung für Russischlehrer anzubieten. Unsere Schule ist sehr daran interessiert, auch unter den deutschen Waldorfschulen eine langfristige Partnerschaft zu finden.
Michael Slutsch (übersetzt von Natalija Grigorjeva)