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Engagierte Gemeinschaft, besonderer Klang

Die 1993 gegründete Waldorfschule Adazi bei Riga zeigt inmitten einer schwierigen wirtschaftlichen Situation wie engagierte Bildung aussehen kann. Ihre Theaterstücke und ihr Orchester, aber auch andere Traditionen wie der “Tag der Muttersprache” sind in Lettland weithin bekannt, nicht selten ist bei Bildungsthemen der Rat der Waldorflehrer gefragt. Doch die Schule muss das bisher genutzte Kindergartengebäude verlassen und braucht jetzt jede Hilfe.

Die Lebenswahrheit der Letten ist Arbeit. Die Letten waren seit alters her ein Bauernvolk. Während der letzten fünfzig Jahre hat sich die Situation geändert: Lettland hat sich in einen Staat mit “Wasserkopf” – Riga – verwandelt, denn wegen der wirtschaftlichen Situation wohnen inzwischen 52% aller Einwohner Lettlands in der Hauptstadt. Eine große Zahl wächst zwischen vielstöckigen Gebäuden und dem Rollen der Autos auf und lernt die gegenseitige Harmonie des Menschen und der Natur nicht kennen.

Die ökonomischen Verhältnisse auf dem Lande unterscheiden sich wesentlich von der Situation in der Hauptstadt. Es gibt viele Landkinder, die nie das Meer gesehen haben – obwohl es sich nur 150 km von ihrem Zuhause befindet –, weil das Gehalt ihrer Eltern auf dem Niveau des Existenzminimums liegt (etwa 185 Euro im Monat). Die Kinder Rigas haben oft keine ländliche Ruhe erlebt, aber zahlreiche Kinofilmen gesehen und Vergnügungsparks verschiedener Länder besucht. Das Leben auf dem Lande und in den Städten unterscheidet sich krass.

Die Schulen in Lettland teilen sich auf zwei Arten auf: Schulen der Selbstverwaltung der örtlichen Behörden, die vom Staat finanziert werden – und Privatschulen, die (wenn sie die Beglaubigung vom Bildungsministerium bekommen haben) einen geringen Zuschuss bekommen, mit dem man einen Teil der Lehrergehälter decken kann.

Doch muss man sagen, dass die Lehrergehälter zu den niedrigsten gehören – etwa 430 Euro im Monat. Die Preise für Lebensmittel und Dinge des täglichen Bedarfs sind dagegen genauso hoch wie anderswo in Europa. Die Lehrer haben keine Sozialversicherung. So kam es in Lettland zu der Situation, dass es an Lehrern fehlt, besonders in Naturwissenschaften, Fremdsprachen und Mathematik – denn in anderen Bereichen können diese Fachleute viel höhere Löhne bekommen.

Trotz der angespannten Wirtschaftssituation und der großen Beschäftigung der Eltern bei der Arbeit, gibt es aber Familien, die bereit sind, am Ausbildungsprozes ihres Kindes selbst aktiv teilzunehmen. Solche Möglichkeit bietet eine Waldorfschule.

Die Waldorfschule, ihre Familien ... und Sorgen

In Lettland gibt es nur zwei Waldorfschulen. Eine ist in Riga und hat neun Klassen. Die zweite befindet sich in Adazi (30 km von Riga entfernt) – und hier kann man in 12 Klassen die allgemeine Schulbildung erwerben. Beide Schulen sind seit 14 Jahre tätig. Anfangs gab es noch zwei weitere Waldorfschulen, die aber wegen der Wirtschaftssituation nicht durchkommen konnten.

Die Freie Waldorfschule Adazi begann also 1993 ihre Arbeit als Privatschule – in einem leerstehenden Kindergartengebäude. Sie wurde von Eltern, Lehrern und beratenden Helfern aus Waldorfschulen Norwegens, Deutschlands und den USA gegründet. Im ersten Jahr waren der Kindergarten und drei Klassen tätig. Jedes folgende Jahr wuchs die Schule dann um einen Jahrgang. Inzwischen hat die Schule schon vier Abschlussfeiern der 12. Klasse erlebt.

Kinder unserer Schule kommen nicht nur aus der direkten Umgebung, sondern auch aus Riga und sogar 70-80 km entfernten Orten. Manchmal wechseln die Familien für unsere Waldorfschule sogar den Wohnort. Auch unser Lehrerkollegium ist sehr stabil. Die Ausbildung haben unsere Lehrer in den Hochschulen erworben, und sie besuchen regelmäßig verschiedene Waldorfkursen und Seminare, die in Lettland und anderen Ländern Europas stattfinden.

Die meisten Schüler kommen aus Familien, in denen die Eltern mit Freude an der Erziehung ihrer Kinder teilnehmen. Unsere Schule steht aber auch für Kinder offen, die vom Schicksaal nicht verwöhnt sind – zur Zeit lernen bei uns sechs Kinder aus Kinderheimen (in den Kinderheimen Lettlands leben etwa 5000 Kinder, deren künftige Integration in die Gesellschaft Sorgen macht). Für Familien, derern finanzielle Situation zu schwierig ist, werden Unterstützer gesucht. Wir sind den Freunden der Erziehungskunst und den Freunden und Paten in Deutschland und Norwegen sehr dankbar, weil sie uns täglich helfen.

Zur Zeit hat unsere Schule 160 Schüler. Bisher waren auch zwei Kindergartengruppen tätig, und es gab sogar eine lange Warteliste von 150 Kindern. Doch in diesem Schuljahr waren wir gezwungen, den Kindergarten zu schließen: Die Räume des Selbstverwaltungskindergartens Adazi, die wir mieten, werden durch eine veränderte Gesetzgebung wieder von der Selbstverwaltung benötigt!

Im Angesicht der ernsten Lage suchten wir eine Lösung und konnten dank vieler Elternspenden ein Stück Grundbesitz kaufen. In Zusammenarbeit mit einem schwedischen Waldorf-Architekten wurde ein eigenes Gebäude geplant. Ende 2005 wurde der erste Bauabschnitt begonnen.

Doch da wir nicht genug Geld haben, wird der Kindergarten für eine Weile nicht tätig sein. Das ist nicht nur für die Familien ein großes Problem, sondern bringt auch die Schule in eine finanzielle Krise. Wir hoffen sehr, dass wir viele geneigte Ohren und freigiebige Herzen finden werden, die uns helfen können. Das Kollegium ist sehr entschlossen, aber es ist klar, dass man nicht lange nur von Hoffnung leben kann.

Traditionen einer engagierten Schulgemeinschaft

Die für unsere Schule eingesetzte Arbeit der Lehrer – darunter auch ehemalige Schüler! – ist enorm. Wir haben schöne Traditionen gebildet, für die wir in ganz Lettland bekannt sind. Jeden Herbst wird auf einem Schlossberg oder in einem Naturpark unser Freilicht-Michaeltheater gespielt, bei dem alle Schüler unserer Schule teilnehmen. Danach gehen Kinder zusammen mit den Eltern auf eine Exkursion, bei der sie verschiedene Aufgaben bewältigen müssen.

Kurz vor Weihnachten findet unser große Weihnachtstheater statt. Die Musik für das Schulorchester schreibt der Orchesterlehrer oft selbst, die Tänze für das Stück gestaltet die Bewegungskunstlehrerin, und auch das “Drehbuch” mit Rollen für alle Schüler entsteht in unserer Schule.

Im Frühling ist eine der größten Veranstaltungen dem Familientag gewidmet, bei dem es außer einem Konzert auch Werkstätten, einen Markt und von Kindern vorbereitete Cafés gibt. An diesem Tag ist jede Familie herzlich willkommen.

Für den letzten Schultag, bei dem die Kinder zusammen mit den Eltern die Zeugnisse bekommen, schreibt die Leiterin des kleinen Chores (1.-4. Klasse) ein musikalisches Märchen, das dieser als Geschenk für die Eltern aufführt.

Eine besondere Veranstaltung, auf die jeden Februar viele Schulen Lettlands warten, ist der “Tag der Muttersprache”. Diese Veranstaltung organisiert die Waldorfschule Adazi in Zusammenarbeit mit der nationalen UNESCO-Kommision. An dem Tag der Muttersprache nehmen fünf Schulen des UNESCO-Netzwerkes teil, zu dem auch unsere Schule seit 2000 gehört. Dieser Tag ist der lettischen Sprache gewidmet: Die Schüler treffen sich mit bekannten und berühmten Menschen Lettlands – Schauspielern, Schriftstellern, Dichtern, Journalisten und Folkloristen –, deren Arbeit täglich mit dem Gebrauch der Sprache verbunden ist. Im zweiten Teil findet dann ein attraktiver Wettbewerb statt.

Ein besonderer Klang

Der Stolz unserer Schule ist unser Orchester, in dem Schüler von der 5. bis 12. Klasse tätig sind. Da die Mittel für den Kauf von Musikinstrumenten ziemlich begrenzt ist, ist die instrumentale Bearbeitung der Musikstücke dem Orchesterlehrer überlassen. Neben fünf Geigen, verschiedenen Flöten, Gitarren, Trommeln, dem Akkordeon und dem Saxophon erklingen verschiedene alternative Schlaginstrumente und Gegenstände, mit denen man verschiedene Laute hervorbringen kann. Das Talent unseres Orchesterlehrers ist wirklich bewunderswert. Das Orchester hat an verschiedenen Veranstaltungen in Lettland (z.B. Buchpräsentationen oder von UNESCO und Bildungsministerium organisierte Veranstaltungen, Wohltätigkeitskonzerte in Kinderheimen und Pensionen) und sogar in England, Deutschland, Schweiz, Österreich, Slowakei und Estland teilgenommen.

Auch unsere Schule selbst hat einen bestimmten Klang im System der lettischen Ausbildung bekommen. Lehrer unserer Schule werden als Berater in verschiedene Projekte eingeladen, die sich mit Fragen der Bewertung, des Unterrichtsinhalts, der Methodik, der Sprachbildung oder der alternativen Lehrmethoden beschäftigen.

Eine große Unterstützung sind unsere Freunde aus der Waldorfschule Vestfold in Norwegen. Astrid Bjonnes, die wir lieb „unsere Patin” nennen, hat schon während vieler Jahren sowohl finanziell geholfen, als auch Geschichte in der Oberstufe unterrichtet. Auch die Waldorfschulen in Wahlwies und am Engelberg haben uns finanziell geholfen und ermöglichen Lehrern unserer Schule jedes Jahr, in ihrem Unterricht zu hospitieren. Und natürlich sind wir den deutschen und norwegischen Schulen dankbar, die unsere Schüler bei sich aufgenommen haben.

Wir wissen nicht, ob in Lettland neue Waldorfschulen gegründet werden. Aber wir wissen, dass das viele, was die beiden vorhandenen Schulen den Kindern geben können, nicht ohne Widerhall bleiben wird, weil eine Arbeit, in der so viel Begeisterung, Enthusiasmus und Lebensfreude lebt, immer Früchte bringen wird. Die Lehrer unserer Schule sind davon überzeugt, dass eine Ausbildung für das Herz diejenige ist, die es den Kindern ermöglicht, die Welt mit allumfassendenen Augen anzuschauen ermöglicht. Und ist denn das nicht das Ziel der Waldorfpädagogik – Fühlen, Verstehen und Lieben zu lernen?

Die Waldorfschule Adazi als UNESCO-Projekt-Schule

Das Ziel jeder Waldorfschule ist es, einen denkenden und verantwortlichen Menschen zu erziehen, dessen Augen in Freude strahlen und der immer weiter lernen möchte. Im Rahmen der UNESCO bekommt dieses Ziel einen breiteren und vielseitigeren Klang. Und es scheint nur logisch zu sein, dass eine Waldorfschule sich dem weltweiten Netzwerk der mit der UNESCO assoziierten Schulen anschließt.

Das Projekt UNESCO-Projekt-Schulen ist in Lettland seit 1990 tätig, im Jahr 2000 schließt sich ihm die Freie Waldorfschule Adazi an.

Die Schule ist der Raum, der die Intelligenz der Schüler und deren Blick auf die Welt wiederspiegelt und umgekehrt –der Raum, der die Bildung dieses Blickfeldes beeinflusst. Deshalb wird in der Waldorfschule Adazi sowohl der Kulturumwelt, als auch einer natürlichen und ungekünstelten Umwelt große Aufmerksamkeit geschenkt. In keinem Fach wird seine praktische Seite vergessen.

So erlauben zum Beispiel gute Kenntnisse der englischen Sprache den Oberstufenschülern, sich in die Rolle eines Führers durch die Schule einzuleben und mit ausländischen Gästen interessante Gespräche zu führen. Die Fähigkeiten im Singen, Musizieren und Tanzen lassen die Schüler frei und ohne Hemmungen zu kommunizieren.

Die Waldorfschule Adazi ist für verschiedene UNESCO-Projekte und Veranstaltungen offen und feiert die internationalen Feiertage. Am Welttag des Buches schickten wir von unseren Kindern gezeichnete Lesezeichen zusammen mit Büchern aus verschiedenen Büchereien Lettlands zu Lesern anderer Länder. Am internationalen Tag der Toleranz finden in unserer Schule “literarische Gerichte” statt, bei denen Schüler durch ein interaktives und improvisiertes Gericht die eigene Meinung äußern, begründen und verteitigen lernen, indem sie sich in die Rollen literarischer Helden einleben..

Am internationalen Familientag gibt es in unserer Schule eine große Veranstaltung für die ganze Familie. Es werden kreative Werkstätte organisiert, bei denen man Kerzen gießen, Tassen und Steine bemahlen, verschiedene Sand- und Blumenkompositionen bilden, ein gemeinsames Theaterstück einstudieren, musizieren und an Sportaktivitäten teilnehmen kann.

Unsere Lehrer und Schüler haben auch an den von der UNESCO und dem Bildungsministerium organisierten Disskusionen über die Ausbildungsreform teilgenommen. Die Vertreter unserer Schule haben an Seminaren in Frankreich, Russland, Polen, Bulgarien, Litauen und Norwegen teilgenommen. Im Rahmen der UNESCO ist eine Zusammenarbeit mit dem Pestalozzi-Kinderdorf in der Schweiz entstanden.

Schon 14 Jahre ist unsere Schule mit der UNESCO-Projekt-Schule in Vestfold/Norwegen – ebenfalls eine Waldorfschule – verbunden, deren Schüler während des Sozialpraktikums Räume unserer Schule renoviert haben, die mit Rat und Tat hilft und unsere Lehrer zu sich einlädt. Jeden Frühling fährt die 6. Klasse unserer Schule nach Norwegen, um auf die Berge zu klettern und während eines Basars ein Konzert zu geben.

Am 21. Februar 1999 wurde der internationale Tag der Muttersprache proklamiert und seit dem Jahr 2000 organisieren wir diesen Tag in unserer Schule. Es gibt mehrere Veranstaltungen, darunter auch Treffen mit bekannten Kulturschaffenden und einen Wettbewerb mit den Mannschaften von fünf anderen UNESCO-Projekt-Schulen Lettlands. Die vielen interessanten Aufgaben und Ergebnisse dieses Wettbewerbs haben wir mit Hilfe der UNESCO als Buch herausgegeben. Auch in den Medien wird über diesen Tag immer wieder berichtet.

Anfang Mai 2007 fand in Lettland ein Seminar für die internationalen Koordinatoren der UNESCO-Projekt-Schulen statt, das Vertreter aus aller Welt besuchten. Nach zwei anstrengenden Arbeitstagen hatten die Gäste die Möglichkeit, zwei Schulen zu besuchen – eine davon war die Waldorfschule Adazi. Die Gäste besichtigten in Begleitung der Schüler die Schule, konnten am Tageslauf der Schule teilnehmen, zusammen mit Schülern und Lehrern essen und ein Konzert sehen, bei dem das Orchester, Sänger und Tänzer unserer Schule aufgetraten. Am Schluss tanzten die Gäste zusammen mit unseren Schülern mehrere lettische Volkstänze und hatten großen Spaß.

Jede Schule ist gesegnet, wenn sie viele Freunde hat und wenn die Gäste sie mit hellen Gedanken verlassen. Eine UNESCO-Projekt-Schule zu sein, heißt vor allem, den anderen Freude zu geben, wodurch man auch selbst viel Freude bekommt. Die Waldorfschule Adazi freut sich sehr, wenn ihr Freundeskreis sich erweitert, wodurch die Schüler Kenntnisse über andere Kulturen erwerben können und fähig sein werden, der Welt über ihre eigene Heimat zu erzählen. Und so hoffen wir, noch viele andere UNESCO-Projekt-Schulen kennenzulernen.

I. Zemite und K. Koziola

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