Waldorfschulen in Südamerika
Die ersten südamerikanischen Waldorfschulen entstanden vor etwa 60 Jahren in Argentinien und Brasilien. Weitere Gründungen folgten in den 70er und 80er Jahren, nun auch in Kolumbien, Peru, Chile, Uruguay, 2002 auch eine Neugründung in Ecuador. In den letzten Jahren dehnte sich die Waldorfbewegung intensiv ins jeweilige Landesinnere aus, besonders in Brasilien. Kindergärten und kleine Schulen entstanden in oft sehr ländlichen Gegenden.
Bis auf zwei Schulen in Brasilien - die unter speziellen Bedingungen als staatlich geförderte, aber weitgehend unabhängige Schulen gegründet werden konnten - werden alle Schulen alleine durch die Elternbeiträge getragen. Die neoliberale Wirtschaftspolitik der internationalen Organisationen, von denen diese Länder abhängig sind, lassen auch keine Änderungen erhoffen. Waldorfschulen werden zudem schlicht als Privatschulen und nicht als öffentliche Einrichtungen in freier Trägerschaft betrachtet.

Gleichzeitig sehen sich die Waldorfinitiativen mit sehr komplizierten und reglementierenden staatlichen Verwaltungen konfrontiert, die jede Neugründung leicht zu einem jahrelangen Behördengang werden lassen und in einigen Fällen auch administrative Posten vorschreiben, z.B. Schulleiter und getrennte Direktoren für Unter-, Mittel- und Oberstufe.
Das verlangt von den Kollegen viel Phantasie und Durchsetzungskraft, um dennoch die eigenen pädagogischen Impulse bis in die sozialen Formen hinein ausgestalten zu können. So beträgt etwa in Kolumbien die Schulzeit elf Jahre, und die Waldorfschule Cali, die von der Notwendigkeit eines 12. Jahres überzeugt ist, kann ein solches nur mit vielen - teilweise von den Behörden selbst vorgeschlagenen! - Tricks umsetzen.
Ihre Situation lässt den meisten Waldorfschulen nur einen sehr beschränkten Spielraum, um auch Kindern aus ärmeren Elternhäusern den Zugang zu ermöglichen. Besonders die jungen kleineren Schulen in den städtischen Randgebieten oder auf dem Land haben damit schwer zu kämpfen und sind unbedingt auf Hilfe durch Patenschaften angewiesen. Das lässt sich leicht nachvollziehen, wenn wir daran denken, dass die Waldorfbewegung in Deutschland im Moment von hohen staatlichen Zuschüssen lebt. Darüber hinaus hat unser Reichtum hier durchaus einen historischen Zusammenhang mit der Armut dort. Eine Verbesserung ist kaum zu erwarten - vielmehr steht zu befürchten, dass die USA eine „Freihandelszone“ mit Südamerika erzwingen, was zu weiterer Verarmung führen wird, wie der Fall Mexiko schon gezeigt hat.
Gleichzeitig erstaunt aber auch die Fülle neuer sozialer Bewegungen, die in den letzten Jahrzehnten in Lateinamerika entstanden und die eine weltweite Ausstrahlung haben. Das Weltsozialforum in Brasilien zum Beispiel ging aus den Erfahrungen der vielen Beteiligungsformen in der kommunalen Verwaltung und der Landlosenbewegung hervor.
Neue soziale Impulse
Auch aus der Waldorfbewegung heraus erwuchsen neue Impulse, die sich diesen sozialen Herausforderungen aktiv stellen – man denke nur an die bekanntesten Aktivitäten in Sao Paulo in der Favela Monte Azul oder in Bogota im Elendsviertel Simon Bolivar. Es gibt immer mehr Menschen, die in Gruppen und individuell aus der Waldorfpädagogik heraus mit Kindern und Jugendlichen aus den ärmsten Schichten arbeiten, häufig unter den schwierigsten Bedingungen. Da sind zum Beispiel die Arbeit von Angela Pineda mit schwarzen Jugendlichen und schwangeren Mädchen in einem Dorf bei Cali oder der mutige Einsatz einer ehemaligen Kollegin aus Medellin, die in Stadtrandgebieten, die von gewalttätigen Kinder- und Jugendbanden kontrolliert werden, pädagogisch mit Kindern und deren Müttern arbeitet. In Argentinien engagieren sich Studenten des Lehrerseminars in einem Elendsviertel, und an vielen Orten finden sich heilpädagogische Aktivitäten, ebenfalls für ärmste Kinder.
Hier öffnet sich ein weites Feld zukünftiger Aktivitäten. Denn in allen diesen Extremsituationen, denen Kinder in den oft vergessenen Randgebieten ausgesetzt sind, zeigt sich sehr deutlich, dass nur eine Pädagogik helfen kann, die sich auf diese Kinder einstellt und auf sie zugeht. Das wird aber nur möglich sein, wenn wir von hier aus - zusammen mit den Schulen dort, denen das finanziell möglich ist - gemeinsame Anstrengungen unternehmen.
Alle drei Jahre findet in jeweils einem anderen Land der Lateinamerikanische Waldorflehrerkongress statt, auf dem sich bis zu 400 Kolleginnen und Kollegen treffen. Eine Besonderheit dabei ist, dass die Vorträge jeweils von Kollegen einer Schule gemeinsam vorbereitet und vorgetragen werden. In den Arbeitsgruppen treten auch immer wieder Fragen auf, die mit den kulturellen und historischen Besonderheiten des südamerikanischen Kontinentes zu tun haben, etwa wie in der Heimatkunde- oder Geschichtsepoche auf die Ursprungskulturen eingegangen werden kann, oder wie spezielle musikalische Elemente aufgegriffen werden können. Auch die Natur zeigt eine Vielseitigkeit und dauernde Präsenz, die wir so hier in Europa nicht kennen.
Südamerika ist wie ein Kontinent, der zwar vor 500 Jahren mal erobert aber noch lange nicht entdeckt worden ist. Es gibt dort noch viele Herausforderungen und Aufgaben, aber auch viele Anregungen, die in Zukunft von dort ausgehen können.
Andreas Schubert