Anatolij Pinskij (1956-2006) – „ein Kämpfer für seine Zeit“
Am 14. Dezember 2006 ist Anatolij Pinskij ganz unerwartet gestorben. Er war von Anfang an (Ende der achtziger Jahre) maßgeblich am Aufbau der Waldorfbewegung in Russland beteiligt. Er war Mitbegründer und langjähriger Leiter der ersten Waldorfschule in Moskau, oft auch „Pinskij-Schule“ genannt, und des „Zentrum für Waldorfpädagogik“, dessen Aufgabe die Lehrerbildung und Herausgabe von Waldorfliteratur war. In den letzten Jahren spielte Pinskij eine bedeutende Rolle in Russland als Politiker und Schulreformer.
Er war Berater des Bildungsministers und Leiter verschiedener Reform-Projekte, die er teilweise selbst initiiert hatte. Sein Name stand in der Reihe der bedeutendsten Persönlichkeiten des russischen Bildungslebens. Er hat seinen hohen Status und seine Beziehungen in offiziellen Kreisen benutzt, um vielfältige Hilfe für die Waldorfbewegung in Russland zu leisten. Sein letztes Projekt war die offizielle Genehmigung eines einheitlichen Lehrplans für alle Waldorfschulen in Russland. Er hat kurz vor seinem Tode einen offiziellen Brief des Bildungsministeriums an alle 90 Regionen des Landes zur Unterstützung dieses Programms organisiert. Er hat immer auch die einzelnen Schulen beraten, und in schwierigen Situationen geholfen. Sein Tod ist ein unersetzbarer Verlust für die russische Waldorfbewegung, und für das Bildungsleben in Russland.

Die frühen Jahre
Anatolij Arkadiewitsch Pinskij wurde am 19. Juni 1956 geboren. Er hat Physik und Mathematik am Pädagogischen Institut in Moskau studiert. Sein Vater war ein bedeutender Wissenschaftler, Professor für Physik-Didaktik und bekannter Autor mehrerer Bücher zur Methodik des Physikunterrichts. Das Interesse für Physik bis hin zum Thema seiner Dissertation geht wahrscheinlich auf den Einfluss seines Vaters zurück, den er tief verehrte. Hauptsächlich interessierten den Studenten Pinskij Probleme der theoretischen Physik, Methodologie und Theorie der Wissenschaften und Philosophie.
Ein wichtiger Faktor in seiner Biographie, ohne den man sein Wirken nicht verstehen kann, war die Teilnahme am so genannten „Methodologischen Zirkel“, den G. P. Schedrowizkij leitete (auch Schedrowizkij-Seminar genannt). Schedrowizkij war einer der bedeutendsten Philosophen-Dissidenten Russlands in den 70er und 80er Jahren. Aus diesem Zirkel sind bedeutende Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Philosophie und Politik hervorgegangen. Unter ihnen waren viele, die später Reformen in verschiedenen Bereichen des öffentlichen Lebens in Russland durchgeführt haben. Heute meint man in Russland, dass Schedrowizkij als Stifter einer selbständigen wissenschaftlich-philosophischen Strömung die bedeutendste Erscheinung im geistigen Leben Russlands gewesen ist. Besonders stark war sein Einfluss auf die Bildungsphilosophie, Pädagogik und sowjetische Psychologie (das so genannte Tätigkeitsparadigma). Man kann sagen, dass fast die ganze intellektuelle Elite durch dieses Seminar gegangen ist. Aus diesem Kreis stammen viele persönliche Kontakte, Beziehungen und Freundschaften Pinskijs mit denjenigen, die später hohe Positionen in der Bildungsbürokratie eingenommen und eine bedeutende Rolle im Zusammenhang mit der Bildungsreform gespielt haben.
A. Pinskij hat sich fast 10 Jahre lang sehr tiefgehend mit den Ideen von Schedrowizkij befasst und an der Arbeit des „Seminars“ teilgenommen (das Seminar war eher ein Diskussionszirkel oder Klub). In diesem Kreis herrschte der Geist des raffinierten Intellektualismus. Die Konzepte der führenden westlichen „bürgerlichen“ Philosophen, die für die Mehrheit in Russland unbekannt und unzugänglich waren, wurden hier diskutiert (Wittgenstein, Popper, Karnap, Kuhn u. a.). Pinskij hat sich für Wittgenstein interessiert und mehrere Beiträge über ihn erarbeitet. Mit der Zeit entwickelte sich Pinskij zu einer der führenden Persönlichkeiten des Kreises. Er gehörte sogar zur kleinen Gruppe persönlicher Schüler von Schedrowizkij. Die Artikel, die er zum Andenken an Schedrowizkij geschrieben hat, wurden als beste Publikationen gepriesen.
Kern der Arbeit des Methodologischen Seminars war die intellektuelle Diskussion, d. h. die kritische Besprechung von Ideen und Konzepten, die die Teilnehmer mitgebracht hatten. Das konnten ganz verschiedene Ideen sein – vom Wesen der Bildung und der Zukunft der Schule, über philosophische und wissenschaftliche Konzepte bis hin zu Fragen der Politik und Staatverfassung. Jede Idee, jeder einzelne Begriff wurden erbarmungsloser Kritik unterworfen. Es war sehr schwer, vor diesem Forum zu bestehen.
Bei dieser Arbeit hat Pinskij große Leidenschaft für Diskussionen verschiedenster Art entwickelt. In der Kunst des Diskutierens und in der Moderation von Diskussionen zwischen Teilnehmern aus verschiedenen Bereichen und verschiedenen Überzeugungen hat er es zu bewundernswerter Meisterschaft gebracht. Ich habe Pinskijs diesbezügliche Fähigkeit oftmals persönlich erlebt und selbst eine Internet-Diskussion mit ihm über das Wesen der Schule, ihren Ort im Staat und über richtige Schulleitungsstrukturen geführt. Besonders starken Eindruck haben auf mich ein „runder Tisch“ mit Pater Pavel (einem Priester, der gegen die Waldorfschulen publizierte) und eine Diskussion über das neue Schulgesetz (das Eltern an Entscheidungen der „Schulverwaltungsräte“ beteiligen sollte) gemacht.
Ich habe daran als Experte teilgenommen und beobachtet, wie Pinskij die Gespräche und Diskussionen moderierte. Ich war tief beeindruckt, wie geschickt und professionell er ganz verschiedene Leute - Lehrer, Schulleiter, Vertreter von Verwaltung und Regierung, Juristen, Ökonomen und Vertreter der Elternschaft - zusammenbrachte, jeden verstand und jede produktive Idee aufnahm und weiterleitete. Pinskij leitete solche runden Tische, Foren und Arbeitsgruppen in verschiedenen Regionen des Landes. Er wirkte als Vermittler zwischen den verschiedenen Schichten der Gesellschaft bei der Lösung von konkreten Problemen des Schulwesens auf der föderalen, regionalen und lokalen Ebene. Er führte auch einige Diskussionsforen im Internet, wo Fragen zur Schulreform aus dem ganzen Lande zusammenliefen.
Der Künstler Pinskij
Außer dieser mehr intellektuellen Seite gab es auch eine ganz andere, eine künstlerische Seite, die gerade in letzter Zeit eine besondere Rolle in seinem Leben spielte, ihre Wurzeln aber in seiner Jugendzeit hatte. Für die Atmosphäre an der Universität in den 70er Jahren war das Interesse der Studenten für Kunst charakteristisch. Die Physikalische Fakultät gab eine eigene Zeitschrift „Physiker“ heraus, was nicht weiter verwunderlich ist. Eine Gruppe von Studenten aber, zu der auch Pinskij gehörte, gab an selbiger Fakultät die Zeitschrift „Lyriker“ heraus, in der sie literarische Werke, Berichte, Erzählungen und Gedichte von Studenten veröffentlichte. Pinskij war brennend interessiert an Literatur, Dichtung und Theater und hat Erzählungen und Gedichte geschrieben, Übersetzungen gemacht, (u. a. aus Tolkiens „Herr der Ringe“, den er damals mit grosser Begeisterung auf Englisch las). Er war zeitweise Redakteur dieser Zeitschrift. Auch initiierte er ein Studententheater, in dem er versuchte, Dostojewskijs „Idiot“ in Szene zu setzen, wofür er selbst das Szenarium schrieb, die Rollen verteilte und die Proben leitete. Die Aufführung wurde aber von der Administration des Instituts verboten, was wiederum für diese Zeit charakteristisch war.
Durch diese literarisch-künstlerische Tätigkeit hat er seine Fähigkeit, Texte zu verfassen gebildet. Später wurde er Autor von hunderten Artikeln und mehreren Bücher. – Ebenso leidenschaftlich begeisterte er sich für Musik, spielte Gitarre und sang. Ein Bekannter von mir, der mit ihm in dieser Zeit gut befreundet war, hat erzählt, wie Pinskij überall eingeladen wurde wegen seines Singens und Gitarrenspiels. Er war fähig, durch sein sehr eigenartiges Singen eine gute Atmosphäre zu stiften. Zeugen berichten, dass einige Lieder von ihm unübertrefflich gesungen worden sind. Aber nur wegen dieser Eigenschaft eingeladen zu werden, war ihm durchaus nicht immer recht!
Die Liebe zu Dichtung, Musik und Theater hat sich später in seiner Tätigkeit an der Schule ausgewirkt. Das Theaterspiel an der von ihm geleiteten Schule hat sich auf Musicals spezialisiert, und Schüler und Lehrer haben gemeinsam daran teilgenommen. Ein besonderer Erfolg war die Aufführungen von „Anatevka“, welche den ersten Preis im Wettbewerb der Schul-Theater-Projekte gewann. Dieses Stück wurde oftmals außerhalb der Schule, z.B. im Moskauer Jüdischen Theater „Shalom“, und auf internationalen Turneen durch Europa mit Erfolg gespielt. Pinskij hat in diesem Stück die Hauptrolle des Milchmann Tewje gespielt.
Diese musikalische Begabung bekam in den letzten Jahren seines Lebens große Bedeutung: Pinskij startete ein anspruchsvolles Projekt, das Ensemble für jiddische Volksmusik „Dona“. Ungefähr zwei Jahre nach der Gründung dieses Ensembles hat er sogar seinen Posten als Schulleiter aufgegeben, um sich ganz der Tätigkeit als Producer von „Dona“ widmen zu können. Diese Wende in seiner Arbeitsrichtung vom Schulleiter zum Producer eines Musikensembles, die für viele Menschen in der Waldorfwelt ganz unerwartet kam, war in Wirklichkeit nur der äußere Ausdruck eines Motivs, das immer schon sein Leben begleitet hatte.
Pionier der Waldorfbewegung
Gegen Ende der 80er Jahre hat Pinskij die Anthroposophie kennen gelernt. Ein Freund hat berichtet, wie er einmal sagte: „Ich habe einen Menschen getroffen, der Wahrheit weiß. Das ist Steiner“. Die Begegnung mit Anthroposophie war nicht unvorbereitet. Ende der siebziger Jahre war Pinskij der orthodoxen Kirche beigetreten, ein für die russische intellektuelle Jugend dieser Zeit charakteristischer Schritt. Er hat alle Rituale streng beachtet, gefastet, regelmäßig an Gottesdiensten teilgenommen, die Schriften der Kirchenväter und Bücher von russischen religiösen Philosophen studiert. Aber auch für Esoterik hatte er eine Neigung. Zeitweilig interessierte er sich für russische Freimaurerei und schrieb sogar über den russischen Freimaurer Novikow und seine Tätigkeit. Unmittelbar vor der Begegnung mit der Anthroposophie las er auch theosophische Schriften von A. Besant und E. Blawatsky. Seine Entscheidung für Steiner kam wahrscheinlich dadurch zustande, dass dieser in der Anthroposophie beide Strömungen – Esoterik und Christentum – vereinigte. Das Buch „Geheimwissenschaft“ - machte auf ihn einen starken Eindruck. Er lernte eine Gruppe von Anthroposophen kennen und bekannte: „In diesem Kreis fühle ich mich unter verwandten Seelen“.
In diese Zeit fallen die Anfänge der Russischen Waldorfbewegung. Die grundlegenden Anstöße in diese Richtung gab eine IDRIART-Tagung in Tiflis, wo sich erstmalig Anthroposophen aus dem ganzen Land begegneten, und auch Waldorfpädagogik vertreten war. Darauf hin entstand in Pinskijs Moskauer Wohnung ein anthroposophischer Zirkel mit pädagogischer Ausrichtung. Von nun an begannen Waldorfkollegen aus verschiedenen Ländern nach Russland zu reisen. Starke Impulse gingen von Herrn Liebendorfer aus Schweden aus. Als dieser bei Pinskij zu Gast war, konnte die Wohnung kaum alle Interessierten aufnehmen. Es war eine sehr gesättigte, begeisterte Atmosphäre. Bald darauf wurde der Klub „Aristoteles“ gegründet. Dort begannen öffentliche Vorträge und Seminare, sowie Arbeit mit Eltern und Kindern. Z.B. entstand eine Kindergartengruppe und Feste wurden veranstaltet. Der Klub „Aristoteles“, zu dessen Gründern Pinskij gehörte, wurde zur Wiege von verschiedenen Waldorfinitiativen, Kindergärten und Schulen.
Pinskij als Realist...
Der Name „Aristoteles“ wurde dem Klub von Pinskij gegeben. Pinskij war damals „mitgerissen“ von der Idee der Gegenüberstellung der zwei geistigen Einstellungen zu Welt und Leben - der aristotelischen und der platonischen. Er hat immer wieder darüber gesprochen. (Übrigens lebte im Klub „Aristoteles“ ein Kater namens Platon). Für Pinskij verband sich mit dem Namen „Aristoteles“ eine bestimmte Haltung der Realität gegenüber, nämlich die Suche nach Ideen in der Realität selbst, ausgehend von den Gegebenheiten des Lebens. Dies stand für ihn in krassem Gegensatz zum Bestreben, Ideen an sich, unabhängig von der Realität wahrzunehmen und dann auf die Wirklichkeit wie von oben aufzuprägen. Der Name des Klubs sollte die aristotelische Haltung zum Ausdruck bringen. Für Pinskij wurde der „aristotelische“ Ansatz (wie er ihn verstand) allmählich zum Leitmotiv seiner ganzen Tätigkeit als Schulleiter der ersten Waldorfschule und des Waldorfzentrums in Moskau. Immer wieder hat er der vom Leben abgehobenen Begeisterung vieler Waldorflehrer und –initiativen sein Konzept der Kompromisse und der Beachtung der Realität gegenübergestellt. Er hat der russischen Waldorfbewegung insgesamt Weltfremdheit vorgeworfen und war der Meinung, dass diese unter anderem auch durch die herkömmliche Art der Waldorflehrerausbildung verursacht werde. So hat er z.B. das Buch „Theosophie“ als Pflichtlektüre aus dem Lehrplan des Moskauer Lehrerseminars gestrichen.
Bei vielen Teilnehmern der damaligen Waldorfbewegung erweckte diese antiidealistische, pragmatische Haltung starke Antipathie. Es entstanden Spannungen zwischen Pinskijs pragmatischer Haltung und der idealistischen Haltung der meisten Waldorflehrer und Waldorfschulen der damaligen Zeit. Oft sagte er den Waldorflehrern Sätze wie: „Was sagen Sie denn da, Frau N? Sie sind wohl vom Mond gefallen?“ Oder: „wenn ich einen Lehrer verliere, dann ist es für die Schule nicht gefährlich, ich stelle einen anderen an. Wenn ich aber einen guten Buchhalter verliere…“ Aus diesen Worten konnte man entnehmen, dass ihm ein guter Buchhalter für die Schule wichtiger war, als ein guter Lehrer. Es ist verständlich, dass solche Äußerungen Lehrer oft beleidigt haben. Sie fühlten sich im Kern ihres pädagogischen Impulses getroffen. Es entstanden Konfliktsituationen und manche Lehrer, die mit Pinskijs Ausrichtung der Schule nicht einverstanden waren, mussten gehen. Solche Konflikte entstanden nicht nur innerhalb der Schule, sondern auch mit Waldorfkollegen aus Deutschland, die wesentliche, persönliche Beiträge zur Entwicklung der Waldorfschule in Moskau und der russischen Waldorfbewegung geleistet hatten.
So wurde der Name Pinskij in großen Teilen der russischen Waldorfkreise zum Inbegriff einer direktorialen, hierarchischen Art der Schulleitung, entsprechend dem bürokratischen Modell der staatlichen Schule. Auch Waldorflehrpläne mussten sich anpassen. Es erschien damals vielen evident, dass unter Führung von Pinskij der eigentliche Waldorfimpuls verwischt wurde zu Gunsten eines Kompromisses mit dem System. Man war der Meinung, dass hinter Formulierungen, wie: „Es existiert keine ‚einzigwahre’ Waldorfschule“ und „Die Waldorfpädagogik muss in Russland eine eigene Form entwickeln“, sich in Wirklichkeit pures Machtstreben verberge und dass Pinskij ein falsches Bild der Waldorfpädagogik in der russischen Öffentlichkeit erzeuge. Es entstand als Gegenbewegung die „Assoziation der Waldorfschulen“ und somit gleich zu Anfang eine Spaltung der russischen Waldorfbewegung. Auf der einen Seite standen diejenigen, die Waldorfpädagogik in „Reinkultur“ haben wollten, und auf der anderen das „Zentrum für Waldorfpädagogik“ in Moskau, das von Pinskijs politisch-organisatorischem Geschick, seinen Beziehungen zur russischen Bildungsbürokratie und zu westlichen Fonds getragen war.
...und Direktor "seiner" Moskauer Waldorfschule
Nach einiger Zeit hat sich allerdings die Berechtigung, ja Notwendigkeit der pragmatischen Orientierung Pinskijs gezeigt. Durch seine Beziehungen, wie auch durch den Aufbau klarer und nach außen verständlicher Verwaltungsstrukturen gelang es ihm, die Schule vom privaten in den Status der staatlichen „Schule Nr. 1060“ zu heben. Das brachte existenzielle Lebensverbesserungen. Dies wird am Beispiel der Raumkosten anschaulich: Die Schule hat ein sehr großes Gebäude, das selbst in den Jahren zwischen 1992 und 1995, als noch private Schulen zu 80% vom Staat finanziert wurden, erhebliche Miet- und Betriebskosten verursachte. Die Anerkennung als staatliche Schule brachte den Wegfall aller Raumkosten mit sich, also eine erhebliche Verbesserung des Budgets, die sich bald als notwendig für das Überleben herausstellen sollte. Denn seit der Wende, die Putin mit seinem totalen Verstaatlichungsprogramm herbeigeführt hat, werden nichtstaatliche Schulen in Russland nicht mehr bezuschusst und zudem steuerlich behandelt wie kommerzielle Unternehmen, was die Existenz vieler privater Schulen überhaupt in Frage gestellt hat. Ein großer Teil der Anfang der neunziger Jahre gegründeten nichtstaatlichen Schulen musste schließen. Für die „Pinskij-Schule“ mit ihren großen Räumlichkeiten hätte das den sicheren Tod allein wegen der Raumkosten bedeutet.
Auch andere Probleme wurden allmählich sichtbar. Aus heutiger Sicht kann man ziemlich sicher sagen, dass die Schule nicht lange überlebt hätte, wenn sie damals die so genannte kollegiale Verwaltungsform angenommen hätte, wie russische und westliche Waldorflehrer das wünschten. Sie wäre an Konflikten im Kollegium und mit den Behörden zerbrochen. Die Widersprüche in der Lehrerschaft bestanden immer, aber sie hatten in der von Pinskij gestalteten Verwaltungsstruktur von Anfang an keine Möglichkeit, sich in Form von administrativen Entscheidungen durchzusetzen. Kein Teil des Kollegiums konnte den anderen Teil auf administrativem Wege zu irgendetwas zwingen, z.B. zum Studium von Anthroposophie oder dergleichen. Die anthroposophischen Kreise aber konnten innerhalb der Schule ruhig existieren. Auch die nötigen Entscheidungen bei hunderten von Einzelheiten mussten nicht monatelang auf sich warten lassen, bis die „interne Konferenz“ Zeit fand, sich damit zu beschäftigen. Die Lehrer konnten sich jederzeit an Pinskij wenden, um Probleme oder Projekte zu besprechen. In gemeinsamen Beratungen wurden dann Entscheidungen getroffen. Pinskij hat auch immer dem Kollegium von seiner Arbeit berichtet, sodass alle über die Probleme der Verwaltung informiert waren. Gegenseitige pädagogische Beratung und Austausch bei pädagogischen Fragen war völlig der pädagogischen Konferenz überlassen. Die Lehrer berichteten über Epochen, besprachen die Kinder, leisteten sich gegenseitige Hilfe etc.
Die finanzielle und juristische Seite der Schule wurde von Pinskij einwandfrei professionell organisiert. Die Lehrer waren von administrativen Fragen befreit und konnten sich ruhig der pädagogischen Arbeit widmen. Pinskij hat für die Schule einen äußeren Rahmen geschaffen, der es den Lehrern ermöglichte, ihre pädagogischen Impulse ungehindert zu entfalten, ohne vor der Schulinspektion Angst haben zu müssen. Das Kollegium verbrauchte nicht seine Kräfte im ständigen Kampf mit Behörden.
Eine Lehrerin berichtet: „Ich habe mit meinen Kindern ein Fest gefeiert. Der Raum wurde feierlich gestaltet, viele Kerzen wurden angezündet. Plötzlich öffnete sich die Tür und ich sah den Feuerwehrinspektor vor mir stehen. „Jetzt ist alles aus!“ dachte ich. Dann sah ich Pinskij hinter seinem Rücken auftauchen, der freundlich und lächelnd zum Inspektor sagte: „Schön, nicht wahr?“ Der Mann hat genickt und zurückgelächelt. Mit großer Erleichterung habe ich ausgeatmet. Alles war in Ordnung.“
Unter seinem Schutzschild hat sich auch der Waldorfkindergarten und das Waldorfkindergartenseminar in Moskau entwickelt und schöne Räume im Zentrum von Moskau bekommen.
Die Suche nach der richtigen Schulform
Rückblickend kann man sagen, dass es für Pinskij bei der Einrichtung des Direktorenpostens nicht darum ging, seine eigene Macht zu befestigen, wie das viele verstanden hatten, sondern um die Suche nach der für die aktuelle Situation richtigen Form der Schulführung. Für seine Entscheidung hatte er zwei Gründe:
1. Er fand, dass die Form der Schulführung, die an Waldorfschulen als die „einzig richtige“ praktiziert wird, sachlich nicht richtig ist. Er meinte, dass diese Form der Leitung Unstabilität und Konflikte provoziert und die reale Verantwortung verwischt.
2. Der Direktor ist im staatlichen Rechtssystem dadurch verankert, dass eine „juristische Person“ staatlich nur anerkannt und eingetragen wird, wenn ein Dirktor und ein Buchhalter vorhanden sind. Eine Schule kann offiziell nur durch einen Schulleiter vertreten werden, der in einer autonomen Position die Gesamtverantwortung trägt.
Ein Kompromiss zwischen der direktorialen und der kollegialen Organisationsform schafft Probleme, z.B. wenn der Schulleiter gesetzlich die Verantwortung tragen muss für Entscheidungen, die vom Kollegium kollektiv getroffen werden. Pinskij war der Meinung, dass „der Schulleiter nicht zu einer Maschine degradiert werden darf, die Stempel und Unterschrift unter Entscheidungen setzt, die er nicht getroffen hat“. Er kann auch nicht Verantwortung für Entscheidungen tragen, die er nicht verantworten will. So ergibt sich die autonome Position des Schulleiters einerseits grundsätzlich aus seiner realen Position im staatlichen Rechtsystem und andererseits aus der internen Organisationslogik. Wenn sich das Rechtsystem einmal ändern sollte, könnte sich auch die Schulverfassung ändern. Aber im gegenwärtigen Russland ist die Sache so, wie sie ist! (Aristotelisches Realitätsprinzip!)
Pinskij sah die feste Bindung der Waldorfschule an eine bestimmte organisatorische Form als Hindernis zur Verbreitung der Waldorfschulen, besonders in den ehemaligen Ostblock-Ländern. Dies war für ihn eine prinzipielle Position. Deshalb hat er den Aufsatz über Selbstverwaltung an Waldorfschulen aus dem Buch „Anthologie für Waldorfpädagogik“, das pädagogische Vorträge Rudolf Steiners und Aufsätze über verschiedene Aspekte der Waldorfpädagogik enthält, gestrichen. Besonders schädlich fand er die Gegenüberstellung von „Staatlicher Schule“ und „Waldorfschule“, die viele ausländische Dozenten machten. Diese Einstellung macht Waldorfpädagogik an staatlichen Schulen unmöglich und nimmt Waldorflehrer gegen den Staat ein. „Der Staat ist böse“. Unter dem Einfluss dieser „Propoganda“ wollten viele Waldorfschulen in Russland unbedingt nichtstaatliche Schulen sein und verwickelten die Waldorfbewegung in einen inneren Konflikt mit den staatlichen Strukturen, der für die Situation in den ehemaligen Sowjetländern fatal ist. Die Existenz dieser Konflikte wurde ihm aus Reisen russischer Beamter nach Deutschland, die er organisierte, klar. Unter vier Augen wurde oft negativ über Waldorfschule und Waldorfpädagogik gesprochen. Spannungen, die in Deutschland existieren, wurden auf diesem Wege nach Russland importiert.
Im heutigen russischen Rechtssystem muss ein Schuleiter da sein. Daran lässt sich nichts ändern. Eine ganz andere Frage ist es, welche Rolle er im Leben der Schule spielen, wie er die Schule leiten soll. Ein moderner Direktor mischt sich nicht in jede Unterrichtsituation ein, er „führt“ das Kollegium nicht, er ermöglicht, dass in der Schule selbständige, schöpferische Lehrer arbeiten und unterstützt die kollegialen Prozesse bei der laufenden pädagogischen Arbeit. Er organisiert professionelle Weiterbildung und persönliche Entwicklung der Lehrer usw. Direktoriale Führung nach Pinskij steht nicht in Widerspruch zur pädagogischen Freiheit der Lehrer im Rahmen der allgemein gültigen strategischen Richtung der Schule (des Leitbildes oder Schulprofils). Derjenige, der die Pinskij-Schule von innen kennt, kann bestätigen, dass die pädagogische Kollegialität einen Schulleiter nicht ausschließt (auch in Finnland hat man dies längst erkannt und in den öffentlichen Schulen eingeführt).
Der Direktor vertritt die Schule nach außen und schafft nach innen einen geschützten Raum für freie pädagogische Arbeit. Dass in der Pinskij-Schule kompetente pädagogische Arbeit geleistet wurde, hat die Entwicklung der Schule überzeugend gezeigt. Mit der Zeit wurde die Pinkij-Schule bekannt als eine der besten Schulen in Moskau. Dies weist sich auch in der Zahl der Anmeldungen aus. Heute kann die Schule nicht alle Kinder aufnehmen. Die Klassen sind voll.
Pinskij hat sich real um die Weiterbildung und das professionelle Wachstum der einzelnen Mitarbeiter bemüht. Er hat Lehrer motiviert, weiter zu studieren und ihr professionelles Niveau zu steigern. Einige Lehrer gingen als Sieger aus staatlichen Lehrerwettbewerben hervor und errangen sogar den ehrensvollen Titel eines „Lehrer des Jahres“. Michael Slutsch, der heutige Schulleiter, wurde von Pinskij allmählich in die Arbeit des Leiters eingeführt und hat dafür spezielle Weiterbildungen als Direktor absolviert. Die Schule hat einen sehr guten Ruf in der Öffentlichkeit, ist voll ins Moskauer Bildungsleben integriert und hat doch gleichzeitig ihr eindeutiges Waldorfprofil behalten.
Diese Ausführungen zum Thema „Aristotelismus“ möchte ich mit einer persönlichen Bemerkung abschließen: Die Fruchtbarkeit und Notwendigkeit des aristotelischen Prinzips lässt sich kaum bezweifeln. Kein vernünftiger Mensch wird heute den platonischen Ideenkult propagieren. Aber man muss das Leben von allen Seiten ansehen! Ohne diejenigen Menschen, die am Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre, ganz aus der Begeisterung für die Idee, ohne Rücksicht auf die so genannte Realität, opfernd ihre Kräfte der Sache der Waldorfpädagogik in Russland gewidmet haben, bestünde die Waldorfbewegung in Russland gar nicht. Pinskij hat bis kurz vor der Schulgründung nicht geglaubt, dass die Waldorfschule realisiert werden könne. Ohne diese „platonischen Leute“ gäbe es einfach keine „Pinskij-Schule“ und für den aristotelischen Pinskij hätte es nichts zu verwalten gegeben. Das betrifft nicht nur die menschliche und geistige Substanz, sondern auch die ganz „irdische“ finanzielle Frage. Ohne Spenden von hunderten idealistischen Menschen hätte man das alte Schulgebäude nicht renovieren können. Nachdem die Platoniker Ihre Substanz geopfert hatten, musste der Aristoteliker Pinskij kommen und der Substanz Form geben. Das ist Realität, volle nicht reduzierte Realität. Pinskijs Fehler war, dass er das nicht klar genug gesehen und nur einen Teil der Steinerschen Gedanken über Platoniker und Aristoteliker konkret wahrgenommen hat. Steiner aber hat über das Zusammenwirken von beiden Gruppen gesprochen, und dieses hat sich in Moskau ereignet und letzten Endes als das eigentlich reale und fruchtbare Prinzip gezeigt.
Austausch mit der intellektuellen Elite Russlands
Ungefähr um die Mitte der neunziger Jahre verstand Pinskij, dass Waldorfbewegung in Russland keine Chance zu einem größeren Durchbruch hat. Er zweifelte auch an der Möglichkeit, dass Waldorfpädagogik etwas Nennenswertes zur Befruchtung des russischen Schulwesens insgesamt beizutragen hätte. Seine Schule allerdings stand mit beiden Beinen auf dem Boden und er konnte sich nach neuen Wirkensmöglichkeiten umsehen, die seinen wachsenden Ansprüchen entsprachen. So initiierte er einen Diskussions- und Begegnungsklub für Schulleiter, einen Ort, wo Schulleiter ihre Ideen und Probleme frei austauschen konnten. Dabei war es eine wichtige Regel, dass keiner mit missionarischer Haltung auftritt oder sich in den internen Raum des anderen einmischt. Seine zweite Initiative in dieser Zeit war ein „Moskauer Club of Rome“. Das war ein Forum der intellektuellen Elite Russlands, wo jeder mit einem Vortrag oder Bericht zu wichtigen Tagesthemen oder grundsätzlichen Problemen auftreten und sich mit anderen Teilnehmern frei austauschen konnte. Mehrere bedeutende Leute haben daran teilgenommen. Es wurden auch Berichte über die Arbeit des Klubs publiziert. Die Sitzungen beider Kreise fanden oft in den Räumen der Waldorfschule statt. So konnten die Teilnehmer etwas „Waldorfgeist“ einatmen. Das hat zur Popularität der Waldorfschule beigetragen. Pinskij selbst vertrat bei diesen Gelegenheiten nie die Ideen der Waldorfpädagogik oder stellte seine Schule als etwas besonderes dar. Nicht die leiseste Spur von Begeisterung für eine bestimmte Bildungsphilosophie ließ er erkennen. Gerade das hat zu seiner persönlichen Popularität beigetragen. Die Gesprächspartner hatten nie das Gefühl, er wolle ihnen etwas aufdrängen oder er wisse etwas besser.
Diese Zeit ist von intensivster geistiger Arbeit geprägt, die sich auch in öffentlichen Aktivitäten und zahlreichen Publikationen äußerte. Er gab sich völlig der Frage nach dem Schicksal der Zivilisation am Ende des zweiten Jahrtausends und den Wegen, auf denen die Menschheit die ungeheure Menge der vor ihr stehenden Probleme zu bewältigen sucht, hin. Eines der zentralen Probleme liegt in den entgegengesetzten und sich widersprechenden Phänomenen „Tradition“ und „Mainstream“ (Die „Mainstream-Theorie“ ist von Pinskij selbst entwickelt wurde. Der Begriff hat also spezifische Bedeutung innerhalb von seiner Theorie). Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts hat sich nach den Erfahrungen von Revolutionen, Weltkriegen, Völkermorden und Holocaust das Phänomen des „Mainstream“ als Ausdruck für die Gemeinsamkeitserfahrung der ganzen zivilisierten Menschheit herausgebildet.
Dies ist eine neue geistige Tatsache, der gegenüber alles bisher Dagewesene nur lokale, „inselhafte“ Bedeutung behält. Ideologien, Religionen, Weltanschauungen, Volks- und Stammestraditionen haben sich in abgegrenzten, großen oder kleineren Menschengruppen entwickelt. Sie hatten und haben für diese eine konstitutive, gleichwohl begrenzte Bedeutung. Die tragischen Menschheitserfahrungen des 20. Jahrhunderts zeugen davon, dass diese lokalen „Traditionen“ quasi aus den Fugen gerieten, ihre Begrenztheit nicht mehr berücksichtigten und sich unter dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit gegenseitig bekämpften. Beim Eintritt der Menschheit in das Zeitalter des globalen Bewusstseins hat sich in dem Phänomen des „Mainstream“ ein neues, diesem Stadium entsprechendes Konzept, eine neue ethische Haltung entwickelt. Sie beruht auf globaler Toleranz und verlangt Achtung gegenüber allen Traditionen, Rücksicht auf ihre individuelle, lokale Berechtigung, auf ihr Lebensrecht. Sie erzwingt zugleich die Aufgabe des Anspruchs auf Allgemeingültigkeit und des Strebens nach Vorherrschaft. Für „Mainstream“ gelten Werte wie „individuelle Freiheit“, „Recht auf materiellen Wohlstand“, „Achtung des Lebens“, „Verneinung jeder Form von Aggression, Fanatismus, Fundamentalismus“. Ihm sind Juden, Christen, Buddhisten, Baptisten, Hassiden, Theosophen, Anthroposophen usw. vollständig gleichwertig und gleichberechtigt. Aber gegenüber dem universalen „Maistream“ erhalten alle diese Strömungen nur lokale Bedeutung.
„Mainstream“ sagt freundlich: das alles ist schön und achtungswürdig, dieses für diese Menschen und jenes - für andere. Jemand kann sagen: „Die Entfaltung des geistigen Potenzials des Menschen der Fünften Rasse geschieht durch Vereinigung von Suthrama und Anshamkara“. Ein anderer kann sagen „der moderne Mensch charakterisiert sich durch die Achtung vor dem Leben und seinem unergründlichen Sinn“. Beide Aussagen sind synonym. Die erste Aussage ist technisch exakt dasselbe, wie die zweite. Aber im ersten Fall lokalisiert der Sprechende sich selbst auf einer Neutheosophischen Insel und stellt sich neben den „Mainstream“. Jede Gruppe spricht eine eigene Sprache und trennt sich von den anderen. „Tradition“, verstanden als Inselhaftigkeit, Insidertum, trägt in sich Konfliktpotenziale und die Tendenz zur Disharmonie mit der „Außenwelt“. Entgegen dieser Haltung ist „Mainstream“ an allem interessiert, was für jeden relevant ist. Das Problem der Allgemeinbildung steht mit diesem Interesse in engem Zusammenhang. Sie ist eine zentrale Aufgabe der zukünftigen Schule (vgl. A.Pinsky, V.Rokitiansky: “Tradition and Mainstream”, Moskau 2000, Untertitel: Tradition und Zeitgeist. Zur geistigen Grundlagen der Bildung und Kultur der Zukunft).
Entstehung und Sinn von „Mainstream“ versuchte Pinskij aus dem Gang der Geschichte zu verstehen. In der ersten Sitzung des „Moskauer Club of Rome“ entfaltete er ein großes Panorama der Weltgeschichte, von der geistigen Ureinheit, über die Alten Kulturen und die abendländischen Geschichtsepochen (Ägypten, Alt-Israel, Griechenland, Rom, Mittelalter, Neuzeit) bis zur Gegenwart. Es sind in der Geschichte verschiedene Versuche unternommen worden, die globale Vereinigung der Menschheit zu stiften: Religionen, geistige Strömungen usw. – Sie alle sind gescheitert. Der letzte große Versuch war die neuzeitliche Wissenschaft. Während einiger Zeit (besonders im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts) erschien es so, als sei durch sie eine universale Sprache und eine, die Menschheit einende Weltauffassung gefunden. Aber im Laufe des 20. Jahrhunderts zeigte sich ihr kardinaler Mangel: es fehlt ihr die Tiefe, und sie verhält sich gleichgültig gegenüber den existenziellen Fragen des Menschen, nämlich nach dem Sinn des Lebens und des Todes. Die Wissenschaft ist vor dem „Mainstream“ gescheitert. „Mainstream“ sagt ganz freundlich: „es ist interessant, was sich diese ‚Eierköpfe‘ in den Akademien ausgedacht haben. Sie dürfen sogar dafür bezahlt werden. Aber das hat mit dem Leben nichts zu tun.“ Pinskij versuchte, seine Überlegungen in eine Art „historiosophischen“ Bogen zusammen zu fassen. Nach der Epoche des Vaters und des Sohnes tritt jetzt in Gestalt des „Mainstreams“ die Epoche des Geistes ein. Die Traditionen sind nicht mehr imstande, den Menschen Wahrheit und persönlichen Sinn zu geben. Jeder ist berufen, seine eigene Wahrheit zu suchen und zu schaffen. Diese Wahrheit aber darf nicht die Wahrheit des anderen einengen und angreifen. Dem Wahrheitsanspruch dieser neuen Art ist die Offenheit gegenüber den Wahrheiten des anderen immanent. Das ist der Sinn der Epoche der Freiheit.
Das Musical „Anatevka“ hatte für Pinski vor diesem Hintergrund große Bedeutung. Es bringt die alte jüdische Welt in ihrer abgeschlossenen Tradition und ihren Zerfall als Beispiel für die Tragik des Traditionellen im Zeitalter des „Mainstream“ sehr aussagekräftig auf die Bühne. Pinskij betrachtete es als Mysterien-Spiel der neuen Epoche.
Wir erleben das Entstehen einer Neuen Welt, einer neuen Zivilisation. Die Bildung, die Schule steht vor ungeheuren Herausforderungen. Pinskij suchte nach Denkern, die das Motiv der Neuen Welt thematisieren und studierte intensiv die Schriften von Philosophen, Gelehrten, Politikern und Ökonomen, die sich damit beschäftigt haben. Von besonderer Bedeutung war für ihn Alvin Toffler, dessen Schriften er sich in dieser Zeit alle angeeignet hat („Zukunftsschock“, „Nachindustrielles Zeitalter“), und der einen besonders starken Einfluss auf ihn ausgeübt hat. Probleme der Gegenwart versuchte er mit Hilfe der von Toffler entwickelten Sprache zu deuten. Der Kampf der Gesellschaftssysteme (z.B. Kapitalismus kontra Sozialismus), der im 20. Jahrhundert für viele ein zentrales Problem gewesen ist, stellte sich für ihn als Scheingegensatz heraus. Beiden Gesellschaftstypen war Industrialismus quasi ein Kult. Die Fabrik mit ihren Rohren und Fließbändern war ihr gemeinsames Symbol. Toffler deutete die traditionelle Schule als industriellen Betrieb, wo Menschen mit den nötigen Eigenschaften für die Aufgaben der industriellen Prozesse „produziert“ wurden. Die traditionelle Schule ist die Schule der industriellen Gesellschaft und gehört schon der Vergangenheit an. Aus dieser Einsicht folgt die Frage nach einer Bildungsphilosophie, die die Grundlagen für das Schulsystem in den neuen Zivilisationsformen der nachindustriellen Gesellschaft legt. Diese Themen hat Pinskij im Zusammenhang mit der Reform des sowjetischen Bildungswesens vielfältig in Aufsätzen und Diskussionen vor breiter Öffentlichkeit entfaltet.
Die außerordentliche Bedeutung, die diese Ideen für das Russische Bildungswesen haben, wird für westliche Leser nicht sofort nachvollziehbar sein. Die Sowjetische Schule war ganz im Geiste des Industrialismus konzipiert. Die Kritik an der sowjetischen Schule nach der Wende in den neunziger Jahren betraf vor allem ihre ideologische Ausrichtung. Sie traf damit aber nicht den Kern des Problems, denn in der sowjetischen Gesellschaft insgesamt herrschte der technokratische Geist. Selbst die Dissidenten waren davon nicht frei. Der Kern der Philosophie von Schedrovitskij z.B., über die wir oben gesprochen haben, bestand in Gedanken über den Umbau der Welt aus rein intellektualistischem, technokratischem Geist (marxistische Grundideen).
Die Kritik am Szientismus und Technokratismus, die im Westen durch Philosophen wie Dilthey, Husserl, Jaspers, Heidegger, Gadamer usw. repräsentiert wurde, war im sowjetischen Russland völlig unbekannt. Und auch bei den neuen Schultheoretikern seit den neunziger Jahren lautet bis heute die wichtigste Vokabel: „Bildungstechnologie“. Denn Technologie steht für Ideologiefreiheit, oder genauer für Wertfreiheit. Dementsprechend war das Interesse an neuen Strömungen, wie z. B. Waldorfpädagogik, von der Erwartung an eine neue, effektive Technologie begleitet. Als klar wurde, dass diese Erwartung nicht erfüllt werden würde, schwand auch das Interesse. Die Prozesse im russischen Bildungsleben der letzten Jahre sind ohne diesen Kult des technokratischen Denkens unverständlich.
Die Reformer der russischen Gesellschaft in der Jelzin-Ära haben eine Ehe des alten technokratischen Geistes mit dem einseitig und radikal verstandenen Neo-Liberalismus vermittelt. So jedenfalls hat Pinskij diese Zeit resümiert. Der Materialismus dieser liberalen Reformer (Gajdar, Tschubajs) äußerte sich u.a. darin, dass Erziehung und Bildung in ihrem Gesellschaftsmodell keinen Platz hatten. Sie machten sich keine nennenswerten Gedanken über Schule und Bildung. Die Gesellschaft wurde zur Wirtschaftsmaschine reduziert. So geschah es, dass quasi über Nacht für Schulen kein Geld mehr ausgezahlt wurde! Damit nicht genug: Lehrer, Professoren, Ärzte und alle in sozialen Berufen Tätigen wurden ohne jede Vorbereitung unter die Armutsgrenze gestoßen. Die Menschen sollten, so die Leitidee, selbständig und aus eigenen Kräften für sich sorgen. Die gesamte soziale Sphäre war davon betroffen. Sozialpolitik hörte auf zu existieren. Es war für Russland äußerst fatal, dass sich diese „Reformer“, die in kürzester Zeit Armut über Millionen Menschen gebracht hatten, in der Bevölkerung als „Demokraten“ darstellten. Lehrer, Hochschullehrer und Professoren sind bis heute die Berufsgruppe, die am schlechtesten bezahlt wird. So bekommt z.B. ein Professor für ein volles Deputat 7500 Rubel im Monat. Dabei verbraucht seine vierköpfige Familie nur für Essen und Miete 12 000 Rubel im Monat!
Reformer des Bildungswesens
Pinskij arbeitete in dieser Zeit am Programm der alternativen demokratischen Partei „Jabloko“ von Javlinskij mit, in dem der Bildung zentrale Bedeutung zukam. Im Jahr 2000, in der ersten Legislaturperiode Putins, kamen Abgeordnete dieser Partei in verschiedenen Organen des Parlaments an die Spitze der Bildungskommissionen. So kam Pinskij mitten ins politische Leben Russlands. Er wurde in dieser Zeit Berater des Bildungsministers und spielte seitdem eine wesentliche Rolle in der Entwicklung der Bildungspolitik.
In den letzten fünf Jahren seiner Tätigkeit gehörte er zum Kreis der einflussreichsten und mit höchster Autorität ausgestatteten Bildungspolitiker Russlands. Es gab keine einzige aktuelle Frage oder Entscheidung, zu der er nicht in schriftlicher Form oder in Sitzungen des Ministeriums Stellung genommen hätte. Dabei kritisierte er oft in scharfer Form Entscheidungen des Ministeriums unter Aufbietung seiner Position, begründet und unabhängig.
Im folgenden sollen nur die wichtigsten Projekte, die Pinskij selbst initiiert und betreut hat, geschildert werden.
Die wesentlichsten Reformen, zu denen Pinskij den Anstoß gegeben hat, betrafen Bildungsfinanzierung und Bildungsrecht. Immer standen konkrete Lebensprobleme am Ausgangspunkt seiner Initiative. Z.B. war es den Schulen in der Jelzin-Zeit trotz ihrer total verarmten Situation verboten, zusätzliche privat bezahlte Unterrichtsangebote durchzuführen. Offiziell durften also weder Theaterspiel, noch Musik- oder Sprachkurse veranstaltet werden, obwohl die Eltern oftmals zu Extraausgaben bereit waren. Absurderweise organisierten sich diese Kurse dann selbständig und die Eltern bezahlten schwarz, denn wenn sie dafür einen offiziellen Status gesucht hätten, wäre ein endloser undurchführbarer bürokratischer Lizensierungsprozess notwendig gewesen. Schulen, an denen solche Kurse stattfanden, bewegten sich in die Illegalität, die Direktoren machten sich strafbar. Gleichzeitig entwickelte sich ein ganzes Netz von Organisationen und Privatpersonen, die die fehlenden Bildungsdienstleistungen, z.B. Prüfungsvorbereitung für Abiturienten u.a. zu teuren Preisen am freien Markt anboten.
Pinskij war der erste, der sich dagegen erhob und öffentlich bekundete, dass unentgeltlicher Unterricht eine Lüge ist! Bildung wird schon seit langem bezahlt, aber das Geld erreicht die Schule nicht, es fließt an ihr vorbei. Pinskij gelang es, ein System zu schaffen, nach dem die öffentlichen Schulen das Recht erhielten, zusätzliche Bildungsangebote frei zu veranstalten. Dabei war der „springende Punkt“, dass Lizensierung nur noch nötig war, wenn am Ende dafür ein staatliches Diplom ausgegeben werden soll. Wenn nicht, dann können Elternbeiträge ohne Lizenz legal angenommen werden. Fächer, die im offiziellen Lehrplan nicht enthalten sind, z.B. Musik, werden von den Eltern bezahlt. Viele Schuldirektoren und ganze Regionen dankten Pinskij dafür. Waldorfschulen, die ins staatliche Schulsystem aufgenommen sind, finanzieren sich seitdem nach folgendem Schema: Der Staat bezahlt die Grundfächer, die im öffentlichen Lehrplan vorgesehen sind, und die Eltern bezahlen die ergänzenden Fächer, wie z.B. Kunst. An Pinskijs Schule war auf diese Weise das Lehrergehalt, wenn auch immer noch bescheiden, so doch zweimal höher, als an normalen Schulen.
(Seit der Einführung der zusätzlichen Finanzierung 1998 hat sich die Finanzierung der Schulen in Russland vielfach geändert. Das Obige gilt heute so nicht mehr. Zwar ist das Durchschnittsgehalt an der „Pinskij-Schule“ bis heute etwas höher, aber an „normalen“ Schule können erfahrene Lehrer durch Vergrößerung der Stundenzahl und verschiedene zusätzliche staatliche Zuschüsse ein viel höheres Gehalt haben. Diese Möglichkeiten gibt es an der Waldorfschule nicht, weil dann die Qualität des Unterrichts leiden würde).
Eine andere wichtige Reformidee betrifft eine neue Gehaltsordnung. Von der Änderung der Gehaltsordnung der Lehrer sind alle weiteren Reformen des Schulsystems abhängig. Sie hat eine Schlüsselstellumg. Im sowjetischen Schulsystem war die Bezahlung streng an die Stundenzahl gebunden. Deshalb versuchten die Lehrer, so viele Stunden, wie möglich zu geben. „Die Überforderung der Kinder war vom Staat subventioniert!“ Wenn man etwas im Unterrichtsprogramm ändern will, z.B. in einem Fach mehr, im anderen weniger Studen, so verletzt man immer irgendjemandes Interessen. Es ist unerlässlich, die enge Verbindung von Stundenzahl und Gehalt aufzulösen. Ein Lehrer gibt nicht nur Unterricht. Er macht Pausenaufsicht, spricht mit Kindern, nimmt an Konferenzen teil, trifft sich mit Eltern, macht Unterrichtsvor- und -nachbereitung usw.
Pinskij hat die Entgeltsregelungen und ihre Auswirkung auf die Schulwirklichkeit in England und Deutschland analysiert und dann für die russische Schule ein neues Gehaltsystem entwickelt, in dem die Lehrer mehr Freiraum haben. Damit hat er die Voraussetzungen für inhaltliche Reformen geschaffen.
Ein weiteres Projekt betraf die Reform der Oberstufe. Bis dahin hatte die Schule ein sehr überfülltes Pflichtprogramm. Der Schüler hatte keine Wahlmöglichkeit. Die Reform beinhaltet, dass er sich ein bestimmtes, auf seine Interessen spezialisiertes Profil zusammenstellen kann. Der Schüler soll lernen, sinnvoll zu wählen. Um eine verantwortliche Wahl zu treffen, kann er sich mit dem vorgegebenen Lerngebiet in Probekursen bekannt machen, bevor er seine letztendliche Entscheidung trifft.
In dem Zusammenhang zeigte sich noch ein anderes Problem. In den Regionen waren nicht alle Schulen in der Lage, ein vollständiges, gut ausgestattetes naturwissenschaftliches oder humanistisches Profil zu schaffen. Es fehlten dafür die Mittel. Aber man konnte z.B. einige Schulen vollständig naturwissenschaftlich und andere Schulen vollständig humanistisch ausrichten. Man ermöglichte dann den Schülern der Oberschule, die sich in einer bestimmten, an ihrer Schule nicht vorhandenen Richtung (Profil) spezialisieren wollten, an einer Schulen mit dem passenden Angebot teilzunehmen. In manchen Gegenden wurden dafür extra Schulbusse eingesetzt. So ergab sich aus dieser Oberstufenreform das Prinzip für die Weiterentwicklung des Bildungssystems ganzer Regionen. Die Profilierung der Oberstufe war das allergrößte Projekt inhaltlicher Reformen, das Pinskij durchgeführt hat. Es hat praktisch alle Regionen des Landes ergriffen. Das Modell dafür wurde an der „Pinskij-Schule“ erarbeitet.
Eine weitere wichtige Initiative richtete sich auf die Demokratisierung der Schulführung durch die Beteiligung der Eltern. Die sowjetische Schule war von den Eltern ganz getrennt. Sie hatten keinerlei Mitbestimmungsrechte. Nach der Reform in den neunziger Jahren wurden Beiräte eingerichtet. Ihre Funktion beschränkte sich auf materielle Hilfe, z.B. Renovierung, Ausstattung eines Physiksaales oder die Anschaffung von Computern, aber irgend ein Stimmrecht gab es nicht. Der Direktor war und blieb der vollständige Herrscher der Schule.
Pinskij brachte die Idee von Schulführungsräten ins Gespräch, wie sie in vielen Ländern vorhanden sind. Eine Gesetzgebungsinitiative wurde vorbereitet. Die Eltern sollten realen Einfluß auf das Schulleben bekommen, teilnehmen an Entscheidungsprozessen, z.B. beim Zustandekommen von Budgets für Ergänzungsfinanzierungen. Für dieses Projekt ist sehr viel theoretische Arbeit, wie z.B. die Analyse der Schulgesetzgebung und Beteiligung der Öffentlichkeit an der Schulleitung in verschiedenen Staaten, geleistet worden. Es gab eine Unmenge an Publikationen zum Thema „Demokratisierung der Schule“. Ich selbst war in diese Arbeit involviert mit einer Analyse über die Elternbeteiligung an Deutschen Schulen und durch eine Untersuchung über die Idee der Bürgerschule auf Grundlage der Arbeit von H. R. Jach und anderen, die breite Resonanz hervorgerufen hat. Leider wurde der Gesetzgebungsprozess in der ersten Legislaturperiode Putins nicht abgeschlossen. Pinskij führte jedoch überall Beratungen mit Lehrern, Eltern, Direktoren und Vertretern der Regionalregierungen und so wurden die Vorschläge wenigstens in die Gesetzgebung vieler einzelner Regionen aufgenommen. Es entstanden in Hunderten von Schulen derartige Beiräte, die die Öffentlichkeit in der Schule repräsentieren und alle an der Verantwortung für die Erziehung der Kinder Beteiligten an einem Tisch versammeln.
Zum Abschluß
In den letzten Jahren führte Pinskij einen sehr eigenartigen Lebensstil. Ein Abgeordneter des Moskauer Parlaments berichtet in seinen Nachruf: „Morgens sah ich ihn in der Duma mit einem wichtigen Bericht. Abends kam ich mit Freunden in ein georgisches Restaurant. Dort spielte eine Band wunderbare Georgische Lieder. Plötzlich sah ich die Musiker an unseren Tisch kommen, allen voran Pinskij. Sie setzten sich zu uns und begannen zu singen, zuerst georgische, dann hebräische Gesänge. Die Verbindung zweier scheinbar unvereinbarer Rollen war für Pinskij völlig normal“.
Obwohl er mit den beschriebenen Tätigkeiten ganz und gar ausgelastet war (oft sagte er: „ich bin beschäftigt, wie Jelzin“) fand Pinskij auch Zeit, der Waldorfpädagogik in Russland zu helfen. Sein letztes, unvollendetes Projekt war unsere gemeinsame Herausgabe der pädagogischen Vorträge Rudolf Steiners in der bekannten Buchserie „Humanistische Pädagogen“. In dieser Serie werden Klassiker der Pädagogik mit Kommentaren bekannter gegenwärtiger Pädagogen herausgegeben. Er gab seine Kommentare in Form von Interviews. Den letzten Vortrag zu kommentieren war ihm leider nicht mehr vergönnt…
Nun ist Pinskij von uns gegangen und wir versuchen, uns bewusst zu machen, was er geleistet hat und vor allem, wie er dabei vorgegangen ist. Der „Fall Pinskij“ ist für die Waldorfbewegung eine echte Herausforderung. Es geht nicht jeden Tag aus dem Waldorfzusammenhang ein Bildungspolitiker von solchem Rang hervor! Seine Beobachtungen über die reale Entwicklung der Waldorfschulen in Russland sollten uns in unserer Haltung und unserem Handeln in der Welt zu einer Neubesinnung anregen. Seine Gedanken widersprechen in vielem unseren gewohnten anthroposophischen Vorstellungen darüber, wie wir uns in der Welt von heute eigentlich einbringen sollten. Meiner Meinung nach ist gerade Pinskijs Wirken in der Öffentlichkeit ein konkretes Beispiel dessen, was Rudolf Steiner als Ziel der Waldorferziehung formulierte: „die Fähigkeit, aus dem Geiste die konkreten sozialen Probleme der Gegenwart zu lösen“ (sinngemäß nach GA 305, Vortrag vom 16 August 1922).
Vladimir Sagvosdkin, Moskau