Auf der Suche nach Selbst- und Sinnerfahrung
Unsere internationalen Sozialdienste für Jugendliche
Ausbruch aus der Spaßgesellschaft
Kevin ist 19 Jahre alt. Er hat sein Abitur an einem Frankfurter Gymnasium abgelegt und weiß nicht so recht, was er nun machen soll. Zunächst möchte er sozialpädagogische Erfahrungen in Monte Azul, einer Favela in Sao Paulo sammeln. Micha ist auch 19 und Abiturient einer Stuttgarter Waldorfschule. Er will einen Ersatz-Zivildienst im Ausland ableisten und hat einen Platz in einer waldorfpädagogisch orientierten Slum-Schule im Großraum von Calcutta gefunden. Tina ist 18, studiert Sonderpädagogik in Göttingen und möchte ein Praxissemester in einer Camphilleinrichtung in Schottland verbringen. Alle drei Jugendlichen begegnen sich beim Vorbereitungsseminar für ihren Sozialdienst im Ausland...

Kevin, Micha und Tina gehören einer Jugendgeneration an, die das Leben oft als unverbindliches Spiel zu begreifen scheint: Soziales Engagement ist vielfach „out“. Viele soziale Einrichtungen erleben das unmittelbar und klagen über mangelnden Mitarbeiternachwuchs. Zugleich scheint es vielen Jugendlichen zunehmend schwerer zu fallen, ein konkretes Berufsziel ins Auge zu fassen. Sie suchen auch lange nach ihrer Schulzeit nach Selbsterfahrungs- und Orientierungsmöglichkeiten.
Die Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners bieten, angeregt von engagierten Jugendlichen, seit nun 14 Jahren Sozialdienste im Ausland an – und bauen das Angebot immer wieder aus.
Am Anfang stand eine Frage
Es war Frühjahr 1993. Rasmus, angehender Abiturient einer Hamburger Waldorfschule wandte sich mit einem recht eigenartigen Anliegen an uns: Er wollte seinen Ersatz-Zivildienst unbedingt in der kleinen waldorf-orientierten Meadowsweet Farm School in einem Stammesgebiet der südafrikanischen Provinz Natal ableisten. Dazu brauchte er eine vom zuständigen Bundesministerium zugelassene Trägerorganisation, die ihn genau dorthin entsenden würde. Eigentlich sprach alles dagegen. Eines aber gab den Ausschlag, daß wir uns auf ein solches Abenteuer einließen: die beachtenswerte Initiative dieses jungen Menschen und seine Überzeugungskraft.
So wurden wir 1993 als Trägerorganisation für einen Ersatz-Zivildienst ministeriell zugelassen und entsandten Rasmus wortwörtlich in den Busch. Bei einem Betreuungsbesuch konnten wir uns von seinem Wirken überzeugen: Er war faktisch zum Rektor der Schule geworden, leitete die Verwaltung und unterrichtete Klassen mit über 60 Schülern. Er schaffte die Prügelstrafe ab und leitete das Lehrerkollegium zu pädagogisch sinnvolleren Methoden an!
Als Rasmus nach fast zwei Jahren nach Deutschland zurückkehrte, hatten bereits weitere 38 junge Männer über uns ihren Dienst im Ausland begonnen. Eine Idee hatte sich verwirklicht und begann sich weiterzuentwickeln...
Unsere Programme
Anderer Dienst im Ausland (ADA)
Junge Männer dürfen statt eines Militärdienstes Zivildienst in sozialen Einrichtungen leisten – oder einen „Anderen Dienst im Ausland“ als Ersatz-Zivildienst machen. Leider wird dieser vom Staat finanziell nicht unterstützt, und es ist auch nur ein Taschengeld erlaubt. Über uns können junge Männer – bis Jahresende waren es bereits 2214 – einen 12-monatigen Dienst an anthroposophisch und pädagogisch orientierten Institutionen im Ausland leisten.
Europäischer Freiwilligendienst (EFD)
Da zunehmend auch junge Frauen nach einem Sozialdienst im Ausland fragen, haben wir uns erfolgreich bemüht, dafür Möglichkeiten zu schaffen. Eine davon ist der von der EU geförderte „Europäische Freiwilligendienst“ für Männer und Frauen zwischen 18 und 28. Die Dienstzeit beträgt drei bis zwölf Monate und ist kein Ersatz für Wehr- oder Zivildienst.
Seit 1997 haben fast 200 Teilnehmer – meist Frauen – über uns den EFD gemacht. Inzwischen sind wir auch als Aufnahmeorganisation tätig, und vor allem Jugendliche aus Osteuropa nutzen diese Gelegenheit, anthroposophische Pädagogik in deutschen Einrichtungen in der Praxis kennenzulernen.
Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ)
Das FSJ ist ein gesetzlich geregelter Freiwilligendienst, der Bildungsaspekte in den Vordergrund rückt und zum Beispiel umfangreiche Vor- und Nachbereitungsseminare und intensive pädagogische Begleitung vorschreibt. Darüber hinaus muß der Träger Beiträge für die Sozialversicherung entrichten. Seit 2003 können junge Männer ihren Zivildienst auch über ein FSJ anerkannt bekommen. Dieser Dienst wird finanziell gefördert und erfreut sich daher großer Nachfrage.
Seit 2003 haben 674 junge Männer ein FSJ im Ausland als Ersatz-Zivildienst über uns gemacht.
Sozialpraktisches Jahr im Ausland (SJA)
Dies ist ein von uns aufgebautes rein privatrechtliches Programm für Jugendliche, die keinen Zivildienst ableisten müssen und einen Sozialdienst außerhalb Europas machen möchten. Wir bieten Beratungshilfe, vermitteln Dienststellen im Ausland, gewähren Versicherungsschutz und leisten pädagogische Betreuung (Vor- und Nachbereitungsseminare sowie umfassende Begleitung). In diesem Programm bieten wir auch spezielle Projekte wie Stadtteilarbeit und Straßenkinderprojekte in südamerikanischen Favelas und südafrikanischen Townships oder kulturpädagogische Projekte in peruanischen Bergregionen an.
Seit 2003 sind über uns 237 Jugendliche für ein SJA ins Ausland gegangen.
Internationales Aufnahme-Programm
Seit 2006 laden wir Menschen aus aller Welt zu einem Freiwilligendienst nach Deutschland ein (siehe den nächsten Artikel).
Internationaler Freiwilligendienst für unterschiedliche Lebensphasen (IFL)
Dieses neue Pilotprojekt wurde 2005 vom Bundesministerium aufgelegt. Im Rahmen des IFL können sich Freiwillige jeden Alters in gemeinnützigen Projekten im Ausland engagieren. Die weltweit auf Grundlage der anthroposophischen Pädagogik arbeitenden Einrichtungen bieten vielfältige Ansätze für einen solchen generationenübergreifenden Dienst. So können zum Beispiel Pädagogen während ihres Freijahres im Ausland tätig werden. Auch pensionierte Lehrer, Geschäftsführer usw. könnten ihre Lebenserfahrung in pädagogischen, sozialen, finanziellen, wirtschaftlichen, kulturellen, rechtlichen, baulichen oder anderen spezifischen Fragen zur Verfügung stellen – eine große Hilfe für viele Einrichtungen weltweit!
Unsere Partner
Bei der Durchführung der Auslandsdienste arbeiten wir mit einem Netzwerk von Partnern zusammen: Freiwilligen, Dienststellen im Ausland, Behörden und Verbänden. Unser Netzwerk umfaßt inzwischen rund 420 Dienststellen in 58 Ländern – Waldorfkindergärten, Waldorfschulen, Einrichtungen für Heilpädagogik und Sozialtherapie sowie sonstige waldorfpädagogische Projekte der Entwicklungszusammenarbeit. Unter den Freiwilligen sind rund 40% Waldorfschüler.
Unsere Erfahrungen
Seit 1993 haben insgesamt rund 3400 Jugendliche einen internationalen Sozialdienst über uns gemacht, 500 allein im letzten Jahr.
Nicht alle Entsendungen sind erfolgreich. Aufgrund persönlicher Krisen, sozialer Konflikte oder Krankheit brachen 2% aller Jugendlichen ihren Dienst ab. In deutlich über 95% der Fälle verläuft der Dienst aber positiv und führt sehr oft zu lebensentscheidenden Begegnungen, innerer Orientierung und beruflicher Weichenstellung.
Die meisten Freiwilligen engagieren sich während ihres Dienstes und auch danach in außerordentlicher Weise. Tobias und Emanuel besorgten mit Benefizkonzerten und Spendensammlungen Orchesterinstrumente für die Waldorfschule in Cieneguilla (Peru), Malte kümmerte sich um Ärzte und Finanzmittel für die Operation eines behinderten Kindes in der heilpädagogischen Christoferus-Schule in Lima.
Viele Jugendliche verlängern ihre Dienstzeit über die Jahresfrist hinaus, halten über viele Jahre Kontakt zu ihren ehemaligen Einsatzstellen oder kehren in ihren Ferien immer wieder zurück. Manche gründen nach ihrem Dienst Fördervereine. Und nicht wenige beginnen aufgrund ihrer Erfahrungen ein Studium an anthroposophischen Ausbildungsstätten.
Um es auf den Punkt zu bringen: Unsere Freiwilligendienste bieten Jugendlichen nach ihrer Schulzeit vielfältige und wichtige Möglichkeiten für Selbsterfahrung, Orientierung und interkulturelle Begegnung. Die generationsübergreifenden Programme eröffnen spezielle Chancen, erworbene Fähigkeiten und Erfahrungen in einer internationalen Kooperation fruchtbar werden zu lassen. Alle Freiwilligendienste sind für die Einrichtungen im Ausland eine große Hilfe.
Für uns bringt das erfreuliche Wachstum dieses Arbeitsbereiches natürlich auch große organisatorische, personelle und finanzielle Anforderungen mit sich. Und so danken wir Ihnen sehr für jede Spende, die uns hilft, diese Freiwilligendienste auch künftig so erfolgreich anbieten zu können.
Bernd Ruf