Auf einsamer Flur zwischen Rom und Sekem
Die Waldorfschule in Palermo auf Sizilien wirkt wie eine Oase inmitten der pulsierenden Stadt. Auf ihre Weise stärkt sie die Initiativkräfte, die in einer von der Mafia, von Armut und Gegensätzen geprägten Umgebung heilsam wirken können. Dabei macht die Not vor den Türen nicht Halt.
Liebe Freunde – auf dem gleichen Längengrad wie Berlin liegt, zentral im Mittelmeer, von Sonne und Licht verwöhnt, Palermo. Auf einer Landkarte, wo jede Waldorfschule ein Leuchtpunkt ist, wären wir ein einsames Licht in weiter Dunkelheit, zwischen Rom und Sekem.* Der Land- und Seeweg ist so weit, daß man auf einem anderen Kontinent zu landen scheint. Die Stadt selbst empfängt sensible Menschen mit einer reichen, dichten, auch dunklen Atmosphäre, die man verarbeiten muß. Rudolf Steiner hielt hier 1911 drei Vorträge, kündigte von hier aus die Wiederkehr des Christus im Ätherischen an.

Vor genau 21 Jahren hielt die Pädagogik Rudolf Steiners Einzug in Palermo, erst als Studiengruppe, 1986 wurde der Verein gegründet - 13 Jahre lang war Claudia Pettenuzzo Vorstand, die zur Zeit mit Ihrer 8. Klasse Michael Endes Gauklerspiel einstudiert -, dann eröffnete der Kindergarten. 1992 begann die Schule und wuchs jedes Jahr um eine Klasse – bis zur achten.
Und da stehen wir jetzt: 160 Schüler einschließlich der drei Kindergartengruppen, ein Kollegium von 20 Lehrern, darunter zwei Eurythmistinnen, eine Förderpädagogin, ein Schularzt.
Wir wollten eine Menschengemeinschaft werden, aus der eine Waldorfschule langsam in die Stadt hineinwächst, die die Welt der Kinder bewußt macht und schützt und ein Kulturfaktor wird.
In Palermo gibt es einen hohen Prozentsatz von Schulabbrechern, Kinderarbeit ist immer noch nicht ausgerottet. Besonders die Mafia wirkt schwächend wie eine chronische Krankheit, die alle Organe infiziert. Sie reicht von Schutzgeldzahlungen bis zur Bestechung und Beteiligung höchster Politiker. Die Partei, die gerade den Regierungspräsidenten Siziliens stellt, hat vier führende Politiker auf der Anklagebank, darunter den Präsidenten selbst.
So ist Palermo eine Stadt der schreienden Gegensätze, wie man sie so in Europa kaum kennt: Neuer Flughafen, Luxusgüter, dicke Autos, bewachte Villen und – einstürzende Altbauten, ganze Straßenzüge ohne Kläranlage, kein Geld für Schulbauten, für Schulen mietet der Staat Wohnhäuser!
Um die Mafia zurückzudämmen, braucht es vor allem Selbstbewußtsein der Bürgergesellschaft. Die Erfahrung des Wertes der eigenen Fähigkeiten, von klein auf, und der Freude, diese in soziale Zusammenhänge einzubringen. Wenn die Kindheit nicht geschützt wird, fehlt es an den für Veränderungen notwendigen Phantasie- und Initiativkräften.
Wir hatten zeitweise jugendliche Straftäter, die uns zur Bewährung zum Beispiel als Küchenhelfer zugewiesen wurden, und konnten beobachten, wie diese gerade den freiwilligen Einsatz aller zum Wohl des Ganzen zu schätzen wußten, und so etwas nachholen konnten, was sie selber nie erfahren hatten. Aber auch die Eltern können bei uns die Erfahrung machen, was man alles erreichen kann, wenn man selber denkt und wenn man initiativ wird, und das ist in Palermo viel wert.
Aufweckend und kräftespendend sind auch die Schulfeste und künstlerische Highlights: Danach geht immer ein Ruck durch die Elternschaft, und die Schüler sind stolz, daß Ihre Eltern auch begeistert sind! Ein Höhepunkt für uns war die Aufführung von Andersens Märchen "Die elf wilden Schwäne" durch die 8. Klasse unter Leitung der Eurythmistin Christiane Mochner. Wir haben sogar Anfragen für eine kleine Tournee in Italien.
Was uns aber wirklich existenz-bedrohend fehlt, ist die Schule!
Ich schreibe diese Zeilen spätabends im Sekretariat, das 4x3 Meter mißt, das Lehrerzimmer ist auch nicht größer, die Konferenz findet im 8x10 Meter großen Mehrzweckraum statt, wo auch im Schichtbetrieb gegessen wird, Eurythmie stattfindet und die Schulfeste abgehalten werden. Die Schulbehörde hat nur zwei Kindergartenräume und die unteren fünf Klassen genehmigt – alle anderen sind zu klein. Die Mittelschule (Klassen 6-8) ist bis heute nicht legalisiert, die Schüler werden von den Eltern privat zur Prüfung an einer staatlichen Mittelschule vorgestellt.
Trotz der Enge sind wir in ganz Italien die Waldorfschule mit der höchsten Miete (4.500 Euro) – und dabei dem niedrigsten Schulgeld (rund 200 Euro). Ein Lehrergehalt beträgt bei uns etwa 800 Euro, die Staatsschullehrer streiken, weil sie mit etwa 1.000 Euro die Lebenshaltungskosten nicht decken können!
Viel zu viel Initiativkraft müssen wir ins finanzielle Überleben der Schule investieren. Vom Staat gibt es keine Zuschüsse. Wir organisieren dieses Jahr eine Sommerfreizeit, Osterbasar, Lotterien, Benefiz-Essen sowie Lebensmittelverkauf und Cafeteria in einem noch anzumietenden Laden. Und nur wenn das alles klappt, kommen wir mit einem Minus von 20.000 Euro übers Jahr – an einen Baufonds ist nicht zu denken...
Für unseren großen Traum einer Oberstufe würden uns weder die Kinder noch die Lehrer fehlen! Aber die finanzielle Not verhindert die Realisierung.
Stephan Heinzmann, Schularzt
* 23 italienische Waldorfschulen liegen ganz im Norden. Livorno in der Toskana gehört schon zu den sechs einzigen Schulen, die sich südlich von Bologna finden. Dazu kommen Rom, nahebei Capena und Borgo Piava, dann Trentino und Manduria am "Stiefelabsatz" – und Palermo.