Bericht aus Tiflis
In Georgien hat sich 2004 vieles verändert. Auch die Waldorfschule Tiflis hat in diesem Jahr viel erlebt – und steht vor neuen Herausforderungen, von denen der folgende Jahresbericht erzählt.
Nicht nur die politische Neuentwicklung des Landes, sondern auch die wiedergefundene Hoffnung und Initiativkraft der Bevölkerung machten 2004 zu einem besonderen Jahr. Auch unser Schulleben konnte zu einer neuen Kraft und Form finden. Es wurde ein neuer Schulverein gegründet, der ganz aus der Initiative der Eltern entstand. Es ist eine große Mitarbeit und Verantwortungsübernahme in vielen Bereichen der Schule zu spüren. Aber lassen Sie mich Ihnen aus unserem Schulleben erzählen...
Im Februar fand unsere erste Oberstufenlehrer-Tagung statt. Neben intensiver theoretischer Arbeit entstand auch ein großes, gemeinsam gearbeitetes Wollfliesbild, das jetzt das Treppenhaus der Schule schmückt.

Bauprojekt und buntes Schulleben
Bald danach konnte nach erfolgreicher Ausschreibung endlich unser großes Bauvorhaben beginnen. Die gegenwärtige Bauphase betrifft einen Gebäudeteil, der bisher nur vier Kindergartenräume beherbergte. Nun kommen Räume für Musik, Eurythmie und Gruppenarbeit hinzu, sowie eine Bühne, die zu dem hoffentlich ebenfalls bald entstehenden Saalbau gehören wird.
Ende Mai sah die Schule dann den großen Auftritt der 8. Klasse. Nach langer Probezeit spielten die Schülerinnen und Schüler „Ein Sommernachtstraum“, der in zwei traumhaften Aufführungen zu einem unvergeßlichen Erlebnis wurde.
Im Juni war die Spannung groß, als Frau Sandra Rulofs unser Gast sein sollte. Alle Kinder und natürlich auch die Lehrer warteten gespannt, bis die Frau des Präsidenten vorgefahren kam. Ihre Freude an den gezeigten Schülerarbeiten und unserem Schulorchester war nicht zu übersehen.
Auch unser erstes Sozialpraktikum fand im Juni statt. Die 11. Klasse verteilte sich über die ganze Stadt in verschiedene Einrichtungen, einige Schüler auch in unseren Kindergarten. Beim Zuschauen fragten wir uns, wer denn nun mehr Freude am Spielen hatte, die Kindergartenkinder oder die Elftklässler...
Die beiden 9. Klassen machten im Dorf Bediani ihr Landwirtschaftspraktikum. Hier befindet sich eines der wenigen hoffnungsvollen Waisen- und Straßenkinderheime Georgiens, und in eben diesem fanden unsere Schüler Unterkunft und Arbeit. Das Heim ist zum Überleben auf die Landwirtschaft angewiesen und freut sich über jede Hilfe. Nun entstand zwischen diesen Kindern und unseren Schülern eine ganz besondere Freundschaft.
Nach den Sommerferien gab es dann auf der Baustelle ein böses Erwachen.Mit den vorhandenen Spenden konnte nur der Rohbau beendet werden! Die Ausgangsrechnungen und das Material für die Ausschreibung waren unzureichend gewesen, hinzu kamen Konstruktionsfehler, ein stark gesunkener Eurokurs und eine Verteuerung des Materials um teilweise 50 Prozent! Die Kosten für die Heizung waren völlig vergessen worden und konnten nur durch schnelle Hilfe der Freunde der Erziehungskunst aufgebracht werden.
Im Oktober machte die 12. Klasse ihre Architekturfahrt nach Kappadokien, für die sie lange gespart und durch verschiedene Aktionen Geld gesammelt hatte. Nach ihrer Rückkehr veranstaltete sie einen wunderschönen Abend mit Bildern, Vorträgen, Tee und Gebäck, dessen Einnahmen sie dann der 11. Klasse für ihre Fahrt schenkte.
Eine besondere Freude war die Reise unseres Puppentheaters nach Deutschland und Frankreich. Auf einem internationalen Festival führten wir mit großem Erfolg das georgische Märchen „Irmisa“ auf, worüber auch die örtliche Presse berichtete.
UNESCO-Konferenz und hoher Besuch
Im November nahmen zwei Elftklässler an einer UNESCO-Konferenz teil, bei der Jugendliche verschiedener UNESCO-Projektschulen zum Thema Umweltschutz arbeiteten.
Im Dezember war der georgische Kultusminister an unserer Schule zu Gast. Er war sehr beeindruckt und will uns in Zukunft bei einem deutlicheren Schritt in die Öffentlichkeit zur Seite stehen.
Am Weihnachtstag schließlich besuchte uns der Bildungsminister! Das neue Bildungsgesetz zeigt eindeutiges Interesse an alternativen Schulformen. Auch ist nicht mehr die Rede von abfragbarer Leistung, sondern von erlernten Fähigkeiten. Der Minister suchte sich dann unsere Schule als eine der ersten Projektschulen aus, um das neue Bildungsprogramm zu testen. Leider entsprechen auch die neuen Festlegungen besonders in den unteren Klassenstufen nicht der gesunden Entwicklung der Kinder. Dennoch haben wir jetzt die einmalige Möglichkeit, auf die Entwicklung der Bildungspolitik vielleicht positiv einzuwirken zu können.
In diesem Jahr wird unsere erste 12. Klasse ihren Abschluß machen. Sie hat die Schule mit gegründet, mußte alle Neuerungen als erste durchmachen und wird sich nun auch den vollkommen neu gestalteten Prüfungen stellen müssen. Scherzhaft nennen sich die Schüler selbst eine Versuchsgeneration, sowohl für unsere Schule, als auch für Georgien. Wir wünschen Ihnen alles Gute!
Außerdem hoffen wir sehr, daß unser Bauprojekt in diesem Jahr trotz Finanzierungsschwierigkeiten zu einem guten Abschluß kommen kann. Bisher muß ein Teil des Fachunterrichtes in der Schulküche oder auf dem Schulhof stattfinden – wenn er nicht im Winter oft ganz ausfiel.
Stephan Beck
1996 führten die Freunde der Erziehungskunst in Tiflis ein vom BMZ kofinanziertes Projekt im Gesamtumfang von über 200.000 DM durch; an dem laufenden Bauprojekt beteiligten sie sich mit 27.500 Euro.