„Pädagogik ist Erziehungskunst“
29. April 2004, Bruckenthal-Lyzeum Sibiu/Rumänien: In der altehrwürdigen Aula der deutschsprachigen Schule, in der bereits Rudolf Steiner am 29.12.1889 einen Vortrag zur Frauenfrage hielt, singen Schüler zum Besuch von Otto Schily ein Stück aus Berthold Brechts „Dreigroschenoper“: „Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so!“
Bundesinnenminister Otto Schily würdigt Waldorfpädagogik in Rumänien
In seiner Ansprache im Festsaal des Rathauses von Sibiu (Hermannstadt) würdigte Bundesinnenminister Otto Schily anlässlich eines Staatsbesuches in Anwesenheit des rumänischen Innenministers Ioan Rus, des Oberbürgermeisters Klaus Johannis und vieler Ehrengäste die Aufbauarbeit der Waldorfpädagogik in Rumänien. Er sprach u.a. von seinem Verständnis der Pädagogik als einer Erziehungskunst. Es sei das vornehmste Anliegen einer solchen Kunst, die Kompetenzbildung zur Gestaltung der eigenen Biografie anzuregen, einer Fähigkeit, die über die individuelle Lebensbewältigung hinaus in hohem Maße gesamtgesellschaftliche Bedeutung habe. Die soziale Frage sei auch eine Erziehungsfrage. Den Pädagogen sprach er für ihr Engagement seinen Dank und seine Anerkennung aus.

Im Rahmen des Festaktes, zu der auch Vertreter des Bundes der rumänischen Waldorfschulen und der „Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners e.V.“ eingeladen waren, überreichte der Innenminister dann Frau Anette Wiecken, der Vorsitzenden des Waldorfschulvereins in Sibiu, eine Spende des Deutschen Fussball-Bundes zugunsten der Waldorfschule „Hans Spalinger“ in Rosia (Rothberg) sowie zahlreiche Fussbälle und Trikots an die Kinder der Roma-Minderheit. Im April 2002 hatte Otto Schily anlässlich der Verleihung der Ehrenbürgerschaft an den Feierlichkeiten zur Namensgebung der 2001 eingeweihten Waldorfschule in Rosia teilgenommen und nun die Roma-Kinder einer Klasse, die er damals besucht hatte, zum Festakt nach Sibiu eingeladen.
Die Roma-Ansiedlungen, zu denen das Dorf Rosia mit seinen 1200 Einwohnern zählt, gehören zu den sozialen Brennpunkten Europas. Die Roma bilden die größte Minderheitengruppe in Rumänien. Noch in den 90er Jahren kam es gegen sie zu Pogromen. Der Schutz dieser Minderheit ist eine der wesentlichsten Voraussetzungen für die Aufnahme Rumäniens in die Europäische Union.
Unverhoffte Nebenwirkungen
Der Besuch des deutschen Innenministers ist für die Waldorfschule in Rosia, aber auch für die ganze Waldorfschulbewegung in Rumänien bedeutsam. So sicherte das Generalinspektorat von Sibiu der dortigen Waldorfschule am Vorabend des Staatsbesuchs nach langen Streitigkeiten Finanzmittel zur Renovierung des Schulhauses zu. Außerdem übertrug der rumänische Staat nach Verhandlungen mit Leonida Pop, dem geschäftsführenden Direktor der „Asociatia Vasile Voiculescu“, der Gemeinde Rosia pünktlich zum Ministerbesuch über 100 ha Grundbesitz für die Errichtung einer Berufsschule auf waldorfpädagogischer Grundlage. Darüber hinaus konnten zwischen der deutschen Delegation und den „Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners e. V.“ bezüglich weiterer Fördermöglichkeiten zugunsten des Schulprojektes in Rosia erfolgreiche Gespräche geführt werden.
Sicher wird das engagierte, öffentliche Eintreten von Otto Schily für die Waldorfpädagogik die auch im Verhältnis zu den rumänischen Behörden mühevolle Aufbauarbeit der Pädagogik Rudolf Steiners befördern und die Bemühungen Rumäniens für die Errichtung eines pluralistischen, demokratischen Bildungswesens unterstützen.
Bernd Ruf