Dem Anderen Glück schenken - Sozialtherapie in Georgien
Im Tagesheim für Sozialtherapie in Tiflis kümmern sich engagierte Menschen um 37 seelenpflegebedürftige Menschen – 37 von 4000 allein in der Hauptstadt. Welcher Lichtblick diese Arbeit ist, geht aus den Berichten zweier Mütter hervor:
Monolog einer Mutter
Wahrheit... wer konnte sie mir sagen und wann: der Arzt, der das neugeborene Kind aufgenommen hat, der erste Nervenarzt, der erste Logopäde? Nein, die Wahrheit hat niemand gesagt. Ich vermochte mir selbst auch kein Eingeständnis zu machen. Jedes Jahr faßte ich neuen Hoffnungen. Aber die Hoffnungsjahre waren zu Ende und ich stand vor der Realität - mein Kind ist Invalide... es gab den Wunsch sich das Leben zu nehmen, es gab Hysterie, Hoffnungslosigkeit. Aber am stärksten war die Angst, Angst vor der Zukunft. Was würde nach mir sein? Wer könnte so ein schweres Kreuz weitertragen? Ihre Schwestern? Sie tragen doch schon von ihrer Geburt an dieses Kreuz still mit mir zusammen!

Ich suchte den letzten Hoffnungsfaden. Vielleicht kann irgendein Heiler helfen, oder die Kirche? Vater Schio sagte mir, daß mein Kind die Sünden von neun Generationen von Vorfahren auf sich genommen hat. Lieber Gott, meine Tochter hat ihre Mission im Leben erfüllt, aber sie hat doch darüber keine Vorstellung!
„Ziehen wir Tamuna an!“ „Geben wir Tamuna Essen!“ „Holen wir Tamuna aus dem Bett!“ – So begann jeder Tag; aber Tamuna gehorchte niemandem. Sie hatte kein Interesse für Menschen. Sie war in ihrer Welt eingeschlossen, die niemand sehen konnte.
Das war aber früher, vor sieben Jahren. Schon sieben Jahre beginnt unser Morgen ganz anders. Tamuna ist seitdem Mitglied des Tagesheims für Sozialtherapie.
Tamuna, meine Tamuna, hat viele Freunde, eine ernste wirkliche Arbeit; sie beteiligt sich am Theaterspiel, an der Essenvorbereitung. Sie räumt auf, webt, macht mit anderen zusammen Ausflüge. Sie freut sich auf jeden Tag, jeder Tag bringt ihr etwas Neues.
Tamuna ist glücklich und nicht allein sie. Dieses „Heim“ hat noch 36 Mitglieder - und noch 36 Familien wohnen in Tbilissi, die das Glück wieder gefunden haben. Für behinderte Kinder gibt es in Georgien einige spezielle staatliche Einrichtungen. Die Gäste erwähnen oft, wie deprimiert und tränenüberströmt sie diese Einrichtungen wieder verließen. Die Gäste unseres Tagesheimes haben auch Tränen, aber diese Tränen sind die der Dankbarkeit, des Staunens und der Liebe für die glücklichen Augen, für Wärme, Liebe und Sorge, denen man sofort beim Öffnen der Türen begegnet.
Möchten sie erleben, was Liebe zur Arbeit, Professionalismus, Uneigennützigkeit, Hingabe bedeutet? Dann besuchen Sie bitte unser Tagesheim für Sozialtherapie. Ich sage „unser“, weil hier die Eltern, ihre Kinder und das Personal sich wie eine Familie fühlen. Und diese Umgebung haben Menschen geschaffen, deren Namen fremden Leuten nichts sagen. Aber wer nur einmal hier gewesen ist, für den sind es Namen, die dem Anderen Glück schenken können, und zwar so, daß niemand es merkt: Marina, Kacha, Lia, Tamriko, Asa, Msia, Schorena, Gia... Ich danke euch dafür.
Makvala Suchischwili ist die Mutter von Tamuna (26), die in der Küche des Tagesheims arbeitet. Ihre Diagnose ist Kinderlähmung.
Heute ist Keti glücklich
Jetzt ist Keti 29 Jahre alt. Eine lange Zeit hat man mir die Hoffnung gegeben, daß alles sich verändern und verbessern würde und ich wartete auch. Aber die Zeit floß, Keti wuchs; statt besser wurde ihre Lage immer schwieriger.
Es ist sehr schwer, die Mutter eines außergewöhnlichen Kindes zu sein. Du denkst, daß nur du in dieser Situation bist und suchst nach den Ursachen. Du beginnst, dich und die ganze Umgebung zu beschuldigen. Du weißt nicht, wie du handeln mußt und wo du Hilfe suchen kannst.
Wir haben Keti zunächst in die logopädische Schule gebracht. Wir dachten, es wäre vielleicht für sie gut, mit anderen Kindern zusammen zu sein. Und wirklich, Keti besuchte die Schule gern. Aber sie war nicht imstande zu lernen; sie konnte nicht schreiben und lesen, ganz zu schweigen von Arithmetik.
Für Keti war die Schule ein guter Platz der zwischenmenschlichen Beziehungen und sie hatte dort viele Klassenfreunde.
Keti hatte (und hat auch jetzt) viele Probleme. Aber gleichzeitig hat sie ein gutes Gedächtnis. Vielleicht dadurch hat sie die russische Sprache gelernt; aber ihr Sprechen ist nicht vollkommen. Keti hat ein gutes Gehör, sie liebt sehr die Musik, sie kennt die Namen aller Sänger. Und was noch wesentlicher ist, Keti hat ein großes Gefühl für Humor. Sie sagt manchmal solche Witzworte, daß ich erstaunt bin – in diesem Moment glänzen ihre Augen und ein schönes Lächeln zeigt sich auf ihrem Gesicht.
Nach der Beendigung der Schule stand ich vor neuen Problemen. Was müssen wir jetzt tun? Obwohl ich oft mit Keti zusammen spazieren ging, das Kino besuchte, waren wir in unserem Haus eingeschlossen. Ketis Charakter war schwerer geworden, sie war oft betrübt, sie bewegte sich weniger und deswegen wurde sie dicker.
Ich verstand, daß Keti Umgang mit gleichaltrigen Menschen brauchte. Keti sollte ihren Platz und ihre Funktion im Leben finden. Jeder Mensch, ob gewöhnlich oder außergewöhnlich, braucht Beziehungen, Handeln, Tätigkeit. Ich war von Pessimismus erfüllt. Ich merkte, wie der Zustand meines Kindes sich veränderte und verschlechterte.
Gerade in dieser Zeit habe ich erfahren, daß das Tagesheim für Sozialtherapie eröffnet wurde, in dem Menschen mit spezifischer Entwicklung arbeiten konnten. Ich erinnere mich gut an unsere erste Begegnung mit dem Tagesheim, wie aufgeregt wir beide waren. Ich dachte damals ständig daran, wie Keti von den anderen empfangen würde, wie sie sich an die neue Umgebung gewöhnen könnte.
Als wir ins Tagesheim kamen, war der erste Mensch, der uns begegnete, Irina; dann kamen auch die anderen – diese wunderbaren Menschen, die da arbeiteten. Plötzlich war ein unsichtbarer Zusammenhang geschaffen, der bis heute dauert. Für Keti ist ihr „Dienst“ der Ort, den sie am meisten liebt. Sie wurde ein gleichberechtigtes Mitglied der großen Gemeinschaft. Ferien und Wochenenden liebt sie nicht, in diesen Tagen ist sie betrübt. Sie schaut immer auf das Telefon und wartet auf einen Anruf, daß die Ferien zu Ende sind.
Im Tagesheim hilft Keti in der Küche. Außerdem beteiligt sie sich in verschiedenen Aktionen und Theaterstücken. Nach der Arbeit erzählt sie mir ihre Geschichten.
Alle sehen große Verwandlungen bei Keti: sie ist lustiger und kommunikativer geworden. Sie begann, auch zu Hause zu arbeiten, und versucht mir zu helfen. Vielleicht sind diese Veränderungen für fremde Augen nicht so bedeutend, aber ich weiß gut, welch einen großen Fortschritt diese Umgebung meinem Kind gebracht hat. Und nicht nur Keti – sondern allen Erwachsenen, denen zu ihrem Glück die Möglichkeit gegeben wurde, Mitglieder der Gruppe zu sein, die das Tagesheim für Sozialtherapie bildet. Heute ist Keti glücklich und ich bin es auch mit ihr zusammen.
Barbare Kachiani-Bakradse ist Mutter von Keti (29). Keti arbeitet zusammen mit Tamuna in der Küche. Ihre Diagnose ist Epilepsie.